Hauptsache, es knallt!
sagen … Aber was auch immer es ist, es verhallt im Hintergrund, denn im gleichen Moment schreit auf einmal meine große Wunde los. Ich kann sie wochenlang nicht beachten, aber wenn es anfängt, hilft gar nichts mehr. Wie mit meinem Lachen, bloß umgekehrt. Und es fängt jetzt an.
Selina hat sich vor zwei Jahren von mir getrennt. Nachdem wir vorher zehn Jahre zusammen waren. Sie ist aus Salzminden weggezogen. Nach Berlin. »In meinem Leben muss sich endlich mal etwas ändern«, hatte sie gesagt. Und die ersten Wochen Berlin hat sie mich noch zu überreden versucht, auch zu kommen. Aber was hätte ich da gesollt? Ich finde, man muss einfach versuchen, das Beste aus dem Platz, an dem man ist, zu machen. Immer dieses Weggerenne. Und insgeheim hatte ich gedacht, Selina kommt wieder. Aber nein, im Gegenteil. Nach drei Monaten Fernbeziehung hat sie sich von mir getrennt. Und jetzt das Gemeine: Sie hat dadurch am Ende nicht nur ihr Leben verändert, sondern vor allem meins. Und, wie gesagt, ich hasse Veränderungen. Doch genau das war wahrscheinlich der Grund, warum sich bei mir am Ende erst recht alles verändert hat. Ist doch alles ein großer Mist. Warum beißen sich die Katzen immer in den Schwanz? Warum tut das am Ende nicht den Katzen weh, sondern mir?
Jil schaut mich immer noch an. Ich merke mehr und mehr, dass ihre ach so unauffälligen Augen viel mehr sagen als ihr Mund. Man muss nur hinsehen. Komisch, in diesem Moment würde ich ihr am liebsten die Geschichte von Selina und mir erzählen. Warum? Was hat sie damit zu tun? Soll ich wirklich?
Nun fängt sie doch an zu reden. Kein Wunder. Wir haben uns schon viel zu lange stumm angeschaut.
»Was glaubst du, Tim, wer ist heute der aller-aller-allergefährlichste Gast?«
Ah, Smalltalk. Ja, ist wohl besser so.
Ich mache kurz »hm« und ziehe meine Liste heraus. Wer ist der aller-aller-allergefährlichste Gast? Auf so eine Frage kann man sich schön einfach konzentrieren. Die Wunde schreit noch ein wenig, aber es wird leiser.
»Hier, die klingt wirklich gefährlich : Regula Richter, Markus’ Cousine zweiten Grades. Risikoklasse: fünf. Potentielle Zerstörungskraft: sieben. Auslösende Faktoren: Wenn jemand irgendwas Falsches mit ihren Kindern macht, falsches Essen, Spielzeug und so weiter. Waffen: Schreit rum. Gegenmittel: Nicht bekannt. Anmerkungen: Immer einen Riesenbogen um ihre Kinder Karl-Eosander, Jorinde-Alexandra und Kasimir-Mehmet-Achim machen. Da sollten wir uns mal lieber dran halten, was Jil-Geneveva?«
»Unbedingt, Tim-Sokrates. Hoffentlich finden wir rechtzeitig raus, wer die Kinder sind.«
»Und wer ist dein oberster Hochzeitsterminator?«
Sie macht auch »hm« und guckt. Wenn sie ihre Stirn kraus zieht, sieht sie aus wie Judy Garland, als sie den Zauberer von Oz entlarvt. Mist. Gibt es denn überhaupt nichts mehr, was ich nicht an ihr mag? Ich meine, schließlich ist sie noch ganz neu hier und …
»Hier, die hier spielt wohl auch auf jeden Fall ganz oben mit: Ottilie Wückenwerth, genannt Tante Otti. Risikoklasse: neun. Potentielle Zerstörungskraft: sechs. Waffen: lustige Hochzeitsspiele. Auslösende Faktoren: Wird ohne Auslöser aktiv. Gegenmittel: Wenn möglich einsperren. Anmerkungen: Wenn Einsperren nicht möglich, Augen zu und durch, immer lächeln und alles witzig finden. «
So wie jetzt. Ich lächele und finde alles … witzig. Ganz wunderbar, wohlig, Einhorn-mit-Sternschnuppenhaft witzig.
»Komm, wir gucken weiter, Tim. Vielleicht haben wir jemanden übersehen. Wer ist wirklich der Aller-Aller-Allergefährlichste?«
Ich warte, dass Jil wieder den Kopf in ihre Liste steckt. Macht sie aber nicht. Sie wartet stattdessen, dass ich den Kopf wieder in meine Liste stecke. Aber anscheinend will keiner so richtig. Und es kann ja auch mal schön sein, wenn sich die Katzen in den Schwanz beißen, denke ich. Weil jetzt sitzen wir da eine kleine Ewigkeit und schauen uns an. Und es ist jetzt auch nicht mehr peinlich. Ich denke ganz entspannt weiter. Wer ist wirklich der Aller-Aller-Allergefährlichste? Und ich kann es fast hinter ihrer Stirn aufblinken sehen, sie denkt das Gleiche. Aber keiner von uns braucht noch die Liste. Und ich, oder sie, oder wir beide gleichzeitig, egal, jedenfalls kommen unsere Köpfe mit einem Mal aufeinander zu und bleiben erst stehen, als sie mir so nah ist, dass ich die Wärme ihrer Lippen spüren kann.
Und meine Lippen öffnen sich und sagen: »Du.«
Und ihr Mund geht auch auf: »Nein, du.«
Und noch
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