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Haus aus Erde

Haus aus Erde

Titel: Haus aus Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woody Guthriie
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Witterung sie traktierten, hier wussten alle beide, Tike und sie, dass der Wechsel von Sommer zu schneestürmischem Winter manchmal, meistens nur zwei, drei kurze Minuten dauerte. Die Zunge des winterlichen Schneesturms schnellte unter dem fliegenden Schwanz des warmen Sommers hervor. Binnen zwei Minuten mochte der eine gehen, der andere kommen.
    All das schoss Tike durch den Kopf, als er die Wand mit Mehlkleister bestrich und seine Zeitungen andrückte.
    Bei Tisch saß Ella May ihm gegenüber und beobachtete, wie er aß. Sie wusste, dass eine Herde tiefer Gedanken durch seinen Kopf stampfte. Er blickte auf seinen Teller und durch seinen Teller hindurch. Er blickte auf die Schüsseln auf dem Tisch und durch die Schüsseln hindurch. Er blickte im Zimmer umher, und seine Augen durchbohrten die Wände. Er blickte durch das dunkle Fenster hinaus, und seine Augen schweiften über die Farm und den Panhandle. Er blickte über die Plains. Er sprach nur wenig, und im Dunkel der Nacht schienen seine Worte über das Land zu gleiten. Er lächelte und blickte ihr in die Augen, und sein Blick ging in sie hinein und durch sie hindurch und immer weiter. Meistens besprachen sie Dinge am Esstisch. Wenn Tike einer dieser Sehanfälle überkam, herrschte bei Tisch eine Atmosphäre der Einsamkeit. Aber Ella May fühlte Tikes Gefühle, und sie wusste, dass seine Sorgen eine schwerere Last wurden, als seine Lippen tragen konnten. Dann tat er ihr leid, und sie schwieg.
    Während Tike noch mehr Zeitschriften und Zeitungen auf die Wände verteilte, wusch sie ab. Töpfe und Pfannen stellte sie auf die Regale aus Apfelsinenkisten an der Südwand, dann bedeckte sie die Schüsseln auf dem Tisch mit einem leinernen Tischtuch und sagte: »Eigentlich bin ich immer ziemlich froh, wenn die Kälte kommt, weil dann die lästigen Fliegen sterben.«   
    »Stimmt.« Tike war damit beschäftigt, die Seiten auf die Wände zu drücken. Er wirkte zutiefst wütend und arbeitete, so schnell er konnte, um sich zu wehren.
    »Soll ich dir helfen, Bruder Tike?«
    »Ja. Könnte Hilfe gebrauchen.«
    Und zusammen pfiffen, summten, sangen sie Teile von Songs, und Ella May drückte die Zeitungsseiten an, während Tike sie mit seinem Handfeger festpappte. Zusammen lachten sie über die alten Fotos von spitzen Schuhen aus dem Jahre 1910. Sie umarmten sich und zeigten lachend auf klobige, schwerfällige Automodelle mit Messingleisten, Tröthupen, Riemen und Schnallen. Sie krümmten sich und hielten sich die Bäuche vor Lachen, als sie die Damen mit ihren Hüten, Tournüren, Tüllschleiern und Perücken betrachteten. Ein gut gekleideter Mann mit weißem Strandanzug und steifem Strohhut löste Lachanfälle aus. Sie hatten die Zeitungen und die Zeitschriften auch früher schon durchgeblättert, denn Ella May sammelte sie seit Jahren. Und so wurde ihr Gelächter eher durch den Wind ausgelöst, durch die Hütte und das Geräusch des Staubes, der gegen die Wände blies, durch ihr Missgeschick, ihre Armut, ihre Schulden und Sorgen als durch die Fotos auf den Seiten. Beide fanden all ihre Ängste und Sorgen nicht so albern oder komisch wie die Dinge in den zwanzig Jahre alten Zeitungen. Ja, so hätten beide ihr Gelächter erklärt, in Wahrheit aber war es nur eine jener Minuten, eine jener Stunden, da der Schmerz der Sorge sich zu Weißglut erhitzt, einfach schmolz und zu Gelächter verbrannte. Hätten sie einen Drachen am Himmel gesehen, eine Katze auf dem Zaun, einen Stiefel in der Gasse, einen Hund mit langem Fell, drei Bäume auf einem Hügel, eine im Nachtwind wehende Pflanze vor dem Fenster, sie hätten ebenfalls gelacht.

E in Jahr. Und was ist ein Jahr? Ein Jahr ist etwas, das zwar hinzugefügt, niemals aber abgezogen werden kann. Ja, das hinzugefügt, vorgemerkt und bezeichnet, in Dollar und Cent berechnet, auf der Habenseite eingetragen und, mit Namen versehen, quer über die Seite geschrieben werden kann. Und von Gesichtern kann man Fotos machen und mit Büroklammern an Dokumenten befestigen, die Fußabdrücke eines Neugeborenen kann man auf der Geburtsurkunde festhalten, den Daumenabdruck dessen, der wieder zur Arbeit geht, auf Papieren verwenden, die bestätigen, dass der Arbeitsplatz gut ist. Und ein Jahr bedeutet Arbeit. Ein Jahr ist jenes nervöse Verlangen, gute Arbeit zu leisten, eine gute Bezahlung zu bekommen und einer guten Gewerkschaft beizutreten.
    Und ein Jahr Arbeit, das sind dreihundertvierundsechzig, -fünfundsechzig oder -sechsundsechzig Tage Rennen,

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