Haus der Angst
T.s Schulter. „Du bist ja riesig geworden. Sind deine Füße eigentlich schon größer als meine?“
Der Gedanke gefiel ihm. Sie liefen an der Steinmauer entlang, die das Feld nach Westen hin begrenzte. Als sie die niedrig wachsenden wilden Blaubeeren auf der anderen Seite der Mauer entdeckten, kletterten sie hinüber und hockten sich hin. Die Sonne erwärmte bereits ihren Rücken. Für den späteren Tag war Regen vorhergesagt worden, aber noch war die Luft so feucht und still, dass Lucy geschworen hätte, die Fußtritte einer Spinne hören zu können.
„Die sind doch noch grün“, sagte J. T.
„Nicht alle. Und für Muffins brauchen wir ja auch nicht viele. Nächste Woche, wenn Großvater hier ist, werden sie genau richtig sein. Dann können wir ihn zu Blaubeerpfannkuchen, Blaubeertorte und Blaubeereiskrem einladen.“
„Ich mag aber keine Blaubeerpfannkuchen.“
„J. T.“
Er lächelte sie an. Er war immer noch davon überzeugt, dass ihm sein Lächeln aus allen schwierigen Situationen heraushalf. Genau wie sein Vater. Seltsamerweise spürte Lucy nicht den üblichen Stich des Bedauerns und den Schmerz darüber, dass ihr Sohn seinen Vater niemals wirklich kennen lernen würde. Es ist so ungerecht, dachte sie. Aber sie kämen auch so zurecht.
„Sieh mal, Mom, ich habe eins, zwei, drei –
fünf
Blaubeeren gefunden. Schau mal die hier – die ist ja riesig.“ Schnell pflückte er sie, warf sie in die Kanne und suchte weiter. „Wow, das ist genau die richtige Stelle.“
„Prima, J. T. Pflück nur weiter.“
Nachdem er drei weitere Hand voll Blaubeeren gepflückt hatte, verlor er das Interesse. Aber Lucy hatte ohnehin schon beschlossen, dass sie genug gesammelt hatten, um Muffins backen zu können. Sie kletterten über die Steinmauer zurück. In diesem Moment kam ihr das Leben wunderbar normal vor.
Sie sah Sebastian über die Hintertreppe kommen. Er setzte sich hin und winkte ihr zu, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus – ganz so, als wäre sie eine verliebte Dreizehnjährige. Aber diesmal war es schon etwas anderes. Sie und Sebastian waren keine Kinder mehr. Sie war achtunddreißig, er neununddreißig oder vierzig. Colin war der richtige Mann für die Frau gewesen, die sie einmal war, aber diese Frau war sie nicht mehr. Die letzten drei Jahre hatten sie verändert. Sie hatte ihren Ehemann verloren, sie musste zwei Kinder alleine erziehen, sie hatte ein eigenes Unternehmen gegründet und war aufs Land gezogen.
J. T. rannte voraus. „Hallo, Sebastian.“
„Hi, J. T. Du bist ja mit den Hühnern aufgestanden.“
„Mom und ich haben Blaubeeren gepflückt.“ Er hielt Sebastian die Kanne vors Gesicht. „Sieh mal.“
Lucy folgte ihm langsam, weil sie wusste, dass es gleich eine Diskussion geben würde. Sie hatte nämlich einen Plan gefasst. Sie wollte nicht länger untätig herumsitzen. Aber sie wusste auch, dass Sebastian ihre Idee nicht gefallen würde.
„Damit machen wir Muffins.“
Sebastian ließ sie nicht aus den Augen, als sie näher kam. Es sah ganz so aus, als ob er spürte, dass sie etwas im Schilde führte, das ihm nicht gefallen würde. „Wirklich?“
„Ja“, erwiderte Barbara. „Ich habe mir überlegt, dass wir ein paar Muffins mit zu Barbara nehmen und sie überraschen.“
Seine Augen wurden nur unmerklich dunkler, aber doch so viel, dass es ihr nicht entging. Sie hatte Recht gehabt. Die Idee gefiel ihm nicht. „J. T., an deinen Blaubeeren sind noch viele kleine Stiele. Warum gehst du nicht in die Küche und säuberst sie, während deine Mutter und ich uns ein wenig unterhalten?“
„Diskutier bloß nicht mit ihr“, warnte J. T. ihn. „Sie ist nämlich nicht in Stimmung dazu.“
Lautstark trampelte er die Treppe hoch. Er bemühte sich gar nicht, leise zu sein; im Gegenteil: Je mehr Krach er machen konnte, umso besser. Sebastian schaute Lucy an, ohne sich zu bewegen. Seine Schrammen und Abschürfungen fielen heute noch weniger auf. „Du willst Barbara Muffins bringen?“ fragte er.
„Jedenfalls würde ich das tun, wenn ich sie nicht in Verdacht hätte, an der Erpressung beteiligt zu sein und mir unangenehme Geschenke zu hinterlassen.“
„Sie waren mehr als unangenehm, und Tatsache ist, du hast sie tatsächlich in Verdacht.“
„Du
verdächtigst sie. Ich weiß nicht, ob ich es auch tue. Schließlich habe ich nicht zwanzig Jahre lang Erfahrungen mit Verrückten und Verbrechern gesammelt. Ich organisiere Abenteuerreisen für unternehmungslustige Menschen.
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