Haus der Angst
Lucy war er immer ein Mann gewesen, der seine Gewalttätigkeit in einem brutalen Job stets unter Kontrolle hatte. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, schaltete Madison sich ein. „Aber Sie leben wie Clint Eastwood in dieser Eröffnungsszene mit seinen beiden Kindern …“
„Tu ich nicht. Ich habe keine Schweine.“
Für ihn war das Thema damit offensichtlich erledigt. Lucy bedeutete Madison mit einem Kopfschütteln, die Diskussion nicht weiter zu führen. Wenigstens dieses Mal befolgte ihre Tochter den Hinweis.
„Wie geht’s J. T.?“ fragte Sebastian.
„Besser“, antwortete Lucy. „Vielen Dank für deine Hilfe.“
J. T. presste das nasse Handtuch gegen seine Nase. „Jedenfalls tut’s nicht weh.“
„Gut.“ Sebastian schien nicht sonderlich besorgt zu sein. „Ihr beiden könnt zum Schuppen gehen und euch die Pferde anschauen, während ich mich mit eurer Mutter unterhalte. Die Hunde begleiten euch.“
„Komm, J. T.“, sagte Madison und spielte zur Abwechslung die besorgte ältere Schwester. „Schlimmer als hier kann es im Schuppen auch nicht sein.“
Sie und ihr Bruder verschwanden. Mit jeder Minute wurden sie staubiger. Falls die trockene Luft, der Staub und die Höhenlage Madison zu schaffen machten, so ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken.
Sebastian murrte. „Die Göre ist ganz schön vorlaut.“
„Es sind beide tolle Kinder“, erwiderte Lucy.
Er drehte sich zu ihr um. Plötzlich wurde sie sich der Stille bewusst. Es gab keine surrenden Ventilatoren oder Klimaanlagen, keine Autos. Nicht einmal Vogelgezwitscher. „Davon bin ich überzeugt.“
„Plato sagte, du hättest ein Forschungssemester genommen.“
„Forschungssemester? So nennt er das jetzt also. Blödsinn.“
„Was tust du denn …“
Etwas in seinem Blick ließ sie verstummen. Sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie Sebastian Redwing getroffen hatte. Trotzdem erinnerte sie sich genau an seine enervierende Fähigkeit, bei ihr den Eindruck zu wecken, er könne in ihre Seele schauen. Sie nahm an, dass ihm dieses Talent bei seiner Arbeit zu Hilfe kam, und fragte sich, ob das mit ein Grund dafür war, dass er hier draußen lebte. Vielleicht hatte er zu viel gesehen. Höchstwahrscheinlich wollte er nicht mehr mit Menschen zusammen sein.
„Sag mir, warum du hier bist“, forderte er sie auf.
„Ich habe es Colin versprochen.“ Der Satz klang so altmodisch, als sie ihn aussprach. Sie strich ihre Haare zurück und fühlte sich ausgesprochen unwohl in ihrer Haut. „Ich habe ihm gesagt, dass ich zu dir gehen würde, wenn ich jemals Hilfe brauchen sollte. Deshalb bin ich jetzt hier. Obwohl ich deine Hilfe eigentlich doch nicht brauche.“
„Tatsächlich?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Gut. Wäre auch zu dumm gewesen, wenn du deswegen eine vollkommen nutzlose Reise gemacht hättest.“ Er ging über die abgewetzten Dielen zur Veranda. „Ich arbeite nicht mehr im Personenschutz.“
Sie war verblüfft. „Was?“
„Plato wird dir alles erzählen. Sieh zu, dass du vor Einbruch der Dunkelheit zurück bist.“
Lucy starrte ihm nach, als Sebastian auf die Veranda hinaustrat. Im Dämmerlicht der Hütte bemerkte sie ein Eisenbett in einer Ecke des Zimmers, ein Paar ausgetretener Turnschuhe, ein Buch mit Gedichten von Robert Penn Warren, einen Stapel James-Bond-Romane und einen Band mit Gespenstergeschichten aus Vermont von Joe Citro. Eine Kerosinlampe war die einzige Lichtquelle.
Mit so etwas hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet. Die Firma Redwing, technisch hochgerüstet und ausgesprochen seriös, gehörte weltweit zu den besten Ermittlungs- und Personenschutzunternehmen. Sie war sozusagen Sebastians Kind. Er kannte sich in der Welt aus. Lucy hatte deshalb eher erwartet, ihn zurückhalten und bei zu schnellem Handeln bremsen zu müssen und darauf zu achten, dass er ihre Interessen wahrte.
Stattdessen hatte er seine Hilfe rundheraus abgelehnt. Ohne Diskussion. Ohne Erklärung.
Sie holte tief Luft. Der Staub, die Höhenlage und die trockene Luft hatten bei ihr kein Nasenbluten verursacht wie bei J. T. Sie hatten ihr nur das letzte Stückchen Vernunft und ihren gesunden Menschenverstand geraubt. Sie hätte
niemals
hierherkommen dürfen.
Lucy folgte ihm nach draußen auf die Veranda. „Du nimmst mich also beim Wort, wenn ich dir sage, dass ich keine Hilfe brauche?“
„Selbstverständlich.“ Er ließ sich wieder in seine Hängematte fallen. „Du bist doch eine kluge Frau. Du wirst schon
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