Haus der Angst

nach dem Baumstamm griff, um nicht hinunterzustürzen.
    Das Fernglas verpasste Sebastians Kopf nur um wenige Zentimeter. Er fing es mit einer Hand auf und schaute nach oben. „Willst du mich umbringen, Lucy?“
    „Das wäre eine Überlegung wert.“ Sie atmete wieder regelmäßig, aber sie zitterte immer noch. „Verdammt noch mal, Redwing, was zum Teufel treibst du hier?“
    „Du wolltest meine Hilfe. Also bin ich gekommen.“
    Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit mussten ihr doch zugesetzt haben. Sie sah wohl Gespenster. Sebastian rekelte sich bestimmt in seiner Hängematte in Wyoming, umgeben von seinen Hunden und Pferden. Er war nicht in Vermont.
    Sie ließ sich auf einen niedrigeren Ast gleiten und schwang sich so gelenkig auf die Erde, als wäre sie wieder zwölf. Für einen Moment hatte sie vergessen, dass sie es nicht mehr war. Sie blieb zwar auf den Füßen stehen, aber der Aufprall war doch sehr unsanft gewesen. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Knöchel. Das T-Shirt rutschte ihr aus den Shorts. Sie fluchte.
    Sebastian schlang einen Arm um ihren Rücken und hielt sie fest. Sie spürte seinen Arm auf ihrer bloßen heißen Haut.
    Er sah sie fest an. „Es ist leichter, raufzuklettern als runterzukommen.“
    „Ich bin schon als Kind auf Bäume geklettert.“
    Er lächelte. „Und jetzt ist es tollkühn. Du hättest dir beinahe den Knöchel verstaucht. Bist du darüber im Klaren?“
    „Aber nur
beinahe
. Mein Knöchel ist in Ordnung.“
    Wenn sie verletzt wäre, hätte er sie womöglich in die Notaufnahme gebracht. Eine unvorstellbare Demütigung.
    „Was hast du denn da oben gemacht?“ fragte er mit leisem Spott.
    „Ich habe Vögel beobachtet.“
    „Die Vögel haben sich längst davongemacht – wegen des Gewitters.“
    Sein Arm lag immer noch um ihre nackte Taille. „Du kannst mich jetzt loslassen“, sagte sie.
    „Stehst du wieder sicher auf den Beinen?“
    „Klar.“
    Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Diesmal war er nicht staubbedeckt. Der schmutzige Cowboyhut und die abgewetzten Cowboystiefel waren verschwunden. Seine Freizeitkleidung sah ordentlich aus, und seine Wanderstiefel wirkten auch gepflegt. Er war schlank, gebräunt und durchtrainiert und sehr wachsam. Das war das Erste, das ihr aufgefallen war, als sie ihn nach all den Jahren wiedergesehen hatte – wie aufmerksam er war. Sie spürte fast körperlich, wie er jede Einzelheit an ihr registrierte – von den Turnschuhen bis zu ihrem zerzausten Haar.
    Er war ja noch schlimmer als ein ehemaliger CIA-Beamter. Vielleicht
war
er ja ein ehemaliger CIA-Agent. Unvermittelt schoss ihr durch den Kopf, wie wenig sie eigentlich über ihn wusste. Und wenn sie Colins Bitte, was ihr Versprechen anging, falsch verstanden hatte und Sebastian Redwing der Letzte war, den sie um Hilfe bitten sollte?
    Sie zog ihr T-Shirt glatt. „Ich dachte, du hättest kein Interesse daran, mir zu helfen.“
    „Habe ich auch nicht.“
    „Dann fahr zurück nach Wyoming.“ Sie ging an ihm vorbei und kletterte auf die Steinmauer. „Als ich dich um Hilfe gebeten habe, meinte ich damit nicht, dass du durch meinen Wald schleichen sollst. Ich wollte nur deine Meinung hören.“ Sie holte tief Luft und drehte sich noch einmal zu ihm um. Sie musste sich sehr anstrengen, die Kontrolle über die Situation zu behalten. „Dir dürfte aufgefallen sein, dass ich die Vergangenheitsform benutzt habe.“
    „Schon gemerkt.“
    „Auf jeden Fall wollte ich nicht, dass du mich erschreckst, während ich auf einem Baum sitze.“
    „Ich wollte dich nicht erschrecken. Du hast dich selbst erschreckt.“ Er kletterte über die Steinmauer. Seine Beine waren lang genug, so dass er den Steinhaufen nicht benutzen musste, der vor langer Zeit von Farmern, seinen Vorfahren vielleicht, aufgeschüttet worden war. „Du solltest dir erst einmal im Klaren darüber sein, um was es eigentlich geht, bevor du etwas sagst.“
    „Also gut. Ich kann mit Kanus und Kajaks umgehen und Bohnen schneiden. Ich kann nicht gut mit Männern umgehen, die aus Büschen herausspringen.“
    Er lächelte. Es war ein beunruhigendes Lächeln, und sie hatte das Gefühl, dass es seine Augen unbeteiligt ließ. Sie täuschte sich nicht. „Du hättest mich mit deinem Fernglas fast erschlagen.“
    „Es war keine Absicht.“
    Er reichte es ihr. „Als ich klein war, bin ich auch immer auf diesen Baum geklettert.“
    Seine Bemerkung machte Lucy verlegen. Immerhin war er Daisys Enkel. Er hatte ihr den Besitz