Haus der Angst
darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken.
Sie lächelte. „Gute Idee, Rob. Gott sei Dank, dass es Freunde wie euch gibt.“
7. KAPITEL
D er Pfad, der neben dem Joshua-Fluss entlangführte, hatte sich seit Sebastians Kindheit kaum verändert. Er liebte diesen Weg. Wenn er seine Großmutter besuchte, hatte er stets darauf bestanden, einen Spaziergang zu den Wasserfällen zu machen. Daisy war nie mit ihm gekommen. Für sie waren die Wasserfälle ein Schauplatz von Tragödie, Gefahr und Verlust, kein Ort von wilder Schönheit oder für verwegene Abenteuer.
Er erinnerte sich an einen seiner letzten Besuche. Sie hatte nur noch kurze Zeit zu leben, und der Weg zu den Wasserfällen wäre nun zu anstrengend für sie gewesen. „Manchmal glaube ich, dass es besser gewesen wäre, sofort nach Joshuas Tod hinzugehen“, hatte sie ihm einmal gesagt. „Aber ich habe zu lange gewartet. Sechzig Jahre.“
„Du hast ein schönes Leben gehabt, Großmutter.“
„Ja, das stimmt.“
Aber sie hat nie mehr geheiratet, überlegte Sebastian, als er sich duckte, um dem niedrig hängenden Ast einer Schierlingstanne auszuweichen. Es gab natürlich einen anderen Grund, warum sie die Wasserfälle mied: Wenn sie nie wieder dorthin ging, konnte sie sich einreden, sie sei in der Lage, die Zeit anzuhalten und sich vormachen, Joshua Wheaton sei noch am Leben. Sebastian hatte das damals nur nicht begriffen. Sie hatte ihn begraben und ihr Leben weitergelebt. Aber tief in ihrem Inneren existierte immer noch die Vorstellung, dass er an einem nassen Märztag in den Wald ging, um einen Jungen und seinen Hund zu suchen. Er blieb immer der junge Mann, den sie geheiratet hatte – und selbst sechzig Jahre später fühlte sie sich nicht als Witwe.
Der Pfad wurde schmaler und verschwand fast im Gras und Unterholz des steil ansteigenden Hangs. Sebastian musste sich an Baumstämmen festklammern und mit den Füßen auf Felsen und aus der Erde ragenden Wurzeln Halt suchen. Nach dem Gewitter der vergangenen Nacht war der Fluss, der zu seiner Rechten vorbeirauschte, angestiegen und schneller geworden. Das Wasser schwappte über graue glatte Steine. Er befand sich jetzt unterhalb der Fälle und ganz in der Nähe des Scheitelpunktes, von wo aus sie metertief in den Abgrund stürzten.
Er hatte Madison Swift nicht aus den Augen gelassen, bis sie wieder sicher bei ihrer Mutter angekommen war. Sie hüpfte ausgelassen, als sie den Wald verließ, und er hatte sich nach dem Grund für ihre Heiterkeit gefragt. Es waren wohl kaum die Wälder von Vermont, die sie in eine so gute Laune versetzt hatten. Etwa ein Junge? Oder Freundinnen? Offenbar schien es ihr überhaupt nicht bewusst zu sein, dass eine Fünfzehnjährige allein im Wald eine Menge Schwierigkeiten bekommen konnte.
Die Luft war trockener als am vergangenen Tag, und selbst in Ufernähe schwirrten kaum Insekten umher. Sebastian ging an einem Felsblock vorbei, der fast so groß war wie er selbst. Auf dem ausgewaschenen Boden war der Pfad nun überhaupt nicht mehr zu erkennen.
Er befand sich jetzt in unmittelbarer Nähe der Wasserfälle. Nur noch ein hoch aufragender, glatter Fels versperrte ihm die Sicht auf den Fluss, die Kaskaden, die Stromschnellen und die Bassins, die das Wasser aus einem gigantischen Granitstein ausgewaschen hatte und in dem es kurzfristig zur Ruhe kam.
Die Wasserfälle waren beeindruckend. Sie waren ihm bestens vertraut, aber er hütete sich, ihre Gefährlichkeit zu unterschätzen. Vorsichtig bahnte Sebastian sich einen Weg über den steilen Felsvorsprung, der sich an die Granitwand schmiegte. Genau über ihm begann das Wasser hinabzustürzen, bahnte sich seinen Weg über glatt gewaschene, runde, pittoreske Steingebilde und sammelte sich in drei natürlichen Becken. Das erste war sehr tief und wirkte bedrohlich mit den von allen Seiten emporragenden Wänden. Es lag unmittelbar unter ihm und war nur zu erreichen, wenn man einen halsbrecherischen Sprung über einen hervorstehenden Felsen riskierte. Dennoch übte das klare, kalte Wasser eine seltsame Anziehungskraft aus, die Sebastian fast körperlich spürte – ebenso wie die Gefahr, die es verhieß.
Das Wasser floss aus diesem Becken über einen anderen Fels in ein kleineres, weniger tiefes Bassin, das weiter unterhalb der Fälle lag, ehe es sich in einem letzten, weit ausladenden und flachen Becken sammelte. Dort betrug die Wassertiefe zu dieser Jahreszeit höchstens einen Meter, an manchen Stellen war es nur knöcheltief.
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