Haus der Angst
fortschicken.“
„Er könnte die Zeit nutzen, um sich auszuruhen“, meinte Lucy.
Seine Verletzungen waren angeschwollen und ließen ihn schlimmer aussehen, obwohl es ihm schon viel besser ging. Heute hatte er noch keine Schmerztabletten genommen. Lucy fragte sich, ob seine Anwesenheit ein Abschreckungsmittel war – so wie ein großer gefährlicher Hund die Leute fernhielt, selbst wenn er nur im Schatten vor sich hin döste.
Allerdings war er attraktiv. Vergangene Nacht hatte sie sich im Bett hin und her gewälzt und sich vorgestellt, dass er neben ihr läge. Das war nicht gut. Es waren gefährliche Gedanken.
Verrückte
Gedanken.
Ehe sie losfuhren, stellte er sich neben den Wagen. Er trug Jeans und ein Polohemd und war barfuß. Lucy musste schlucken, als sie ihn erblickte.
„Ich wollte nur sichergehen, dass beide Kinder bei dir im Wagen sind“, sagte er. „Ich liebe nämlich keine Überraschungen.“
„Wir haben gedacht, ein bisschen Ruhe könnte dir gut tun.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Babys brauchen Ruhe. Fahrt ihr zum See oder zum Fluss?“
„Zum See.“
„Wie viele Kinder kommen?
„Ein halbes Dutzend etwa, ohne meine eigenen. Es ist immer viel los da.“
Er beugte sich hinunter und schaute in den Wagen. J. T. und Madison versuchten, ihre Blicke nicht allzu aufdringlich erscheinen zu lassen: An die Verletzungen in seinem Gesicht hatten sie sich bereits gewöhnt, aber rund um die tiefe Wunde über seinem Auge hatten sich hässliche rote und blaue Flecken gebildet.
Trotzdem wirkte er an diesem Morgen wesentlich ausgeruhter und energischer und sah nicht mehr so aus, als könnte er jede Minute zusammenbrechen. Er war früh ins Bett gegangen. Lucy hatte noch im Wohnzimmer gesessen und gelesen und sich vorgestellt, wie es wohl sein mochte, sich mit ihm zu unterhalten.
Viel redet er ja sowieso nicht, erinnerte sie sich. Er war schweigsam, verschlossen, menschenscheu – je nachdem, welchen Standpunkt man einnahm oder in welcher Stimmung man war. Bei seiner Arbeit kümmerte sich schließlich auch niemand um seine Persönlichkeit. Alles, was zählte, war seine Kompetenz.
„Na gut“, sagte er, reckte und streckte sich und warf ihr einen mürrischen Blick zu. „Sieh zu, dass du nicht zu spät kommst.“
„Ich kann schon auf mich selber aufpassen“, giftete sie zurück.
Er senkte seine Stimme, damit Madison und J. T. ihn nicht hören konnten. „Du willst wohl nicht, dass ich hinter dir herfahre.“
Eigentlich wollte sie das nicht. Ein warmes Gefühl stieg ihr den Rücken hinauf. Sie hoffte, dass er nichts von ihren Regungen mitbekommen hatte, doch Sebastian lächelte wissend, bevor er zum Haus zurückging. Diesem Menschen entging aber auch wirklich nichts.
Ein paar Stunden auf dem See wirkten Wunder für ihre Seele. Die Kinder, die sie unterrichtete, waren eifrige Schüler. Madison und J. T. waren erfahren genug, so dass Lucy sich um sie nicht zu kümmern brauchte.
Sie genoss es, das Paddel ins Wasser zu tauchen, sie liebte das Wasser, das ihr auf Arme und Beine spritzte, sie erfreute sich am Gesang der Vögel und dem Gelächter der Kinder.
Ihre quälenden Zweifel und die Fragen, die sie sich unentwegt stellte, waren für ein paar Stunden in den Hintergrund gerückt, und ihre Nervosität, die sie fast verrückt machte, hatte nachgelassen. Nachdem sie ihre Utensilien eingepackt hatten und nach Hause fuhren, glaubte sie zum ersten Mal seit langer Zeit, wieder ganz normal zu sein.
Das änderte sich sofort, als sie in ihre Einfahrt einbog und Sebastian und Rob Kiley erblickte, die auf ihrer Veranda saßen und sich unterhielten.
Sie hatte das Gefühl, dass ihre beiden Leben – das eine, das sie unter Kontrolle hatte, und das andere, in dem alles drunter und drüber ging – mit einem gigantischen Krachen zusammenprallten.
Die beiden Männer winkten ihr lächelnd zu, aber sie sah, dass Robs Lächeln gezwungen wirkte.
„Wie war’s auf dem See?“ fragte Sebastian, als sie sich kurz darauf zu den beiden Männern gesellte. Er klang ganz ruhig und schien keine Schmerzen mehr zu haben.
Lucy setzte ebenfalls ein falsches Lächeln auf. „Wahrscheinlich genauso wie damals in eurer Kindheit. Schwelgt ihr in Erinnerungen?“
Rob erhob sich umständlich. Normalerweise bewegte er sich lässig, jetzt wirkte er angespannt. „Sebastian wusste überhaupt nicht, dass meine Großmutter Daisy jedes Jahr zu Weihnachten einen Früchtekuchen geschenkt hat – als Dank dafür, dass Joshua Wheaton meinem
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