Haus der Erinnerungen
schrecklicher Vorahnung ängstigte mich.
»Als Kind hat dein Großvater Victor sehr ähnlich gesehen. Du bist sehr niedergedrückt aus dem Krankenhaus heimgekommen, das habe ich wohl bemerkt, und du hast dir Gedanken gemacht. Du hattest deinen Großvater vor dir, hattest sein Gesicht noch im Gedächtnis, und in deiner Phantasie hast du ihn als jungen Mann gesehen, vielleicht weil du so traurig warst. Du hast die Jahre einfach ausgelöscht und ihn wieder jung gemacht. Und dann hast du geglaubt, du siehst ihn am Fenster.«
Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich wollte nicht mit Großmutter streiten, die dieses Gespräch sichtlich erregte. Aber ich mußte eine Antwort finden.
»Großmutter«, sagte ich langsam, »wie ist Großvater mit diesem Victor Townsend verwandt?«
Ich sah, daß meine Frage sie quälte, aber sie antwortete. »Victor Townsend«, sagte sie,
»war der Vater deines Großvaters.« Mein Blick kehrte zu dem Foto zurück. »Victor Townsend war dein Urgroßvater.«
Ich konnte den Blick nicht von dem Bild wenden, und während ich das junge, schon männlich schöne Gesicht unter dem vollen schwarzen Haar betrachtete, den trotzigen Zug wahrnahm, den ihm die feine Furche zwischen den Brauen gab, fühlte ich mich wie unter einem Bann. Die alte Fotografie übte den gleichen hypnotischen Zwang auf mich aus wie in der Nacht zuvor jene unbekannte Kraft, die mich veranlaßt hatte, zum Spiegel über dem Kamin zu blicken.
Die drei Kinder standen auf einer Treppe vor einem Haus, das ich nicht kannte. Das kleine Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, wirkte unscheinbar, obwohl man sich offensichtlich größte Mühe gegeben hatte, sie herauszuputzen. Das gerüschte Kleidchen und die Schleifen im Haar konnten die Schlichtheit ihres Gesichts nicht vertuschen, sondern hoben sie eher noch hervor. Der zweite Junge, jünger als Victor, mit sanfteren Zügen, stand verlegen neben seinem Bruder. Victor Townsend, der Älteste, dominierte. »Das ist vor ihrem Haus in London aufgenommen«, bemerkte Großmutter in einem Ton, der deutlich sagte, daß sie lieber nicht davon sprechen würde. »Das muß also etwa 1880 gewesen sein, kurz bevor sie das Haus hier kauften. Victors Vater, dein Ururgroßvater, war bei einer Londoner Firma beschäftigt und wurde nach Warrington geschickt, um eine neue Niederlassung zu eröffnen. Als die Familie hierher kam, war das Haus gerade fertig geworden. Sie waren die ersten, die einzogen.«
»Ich habe nie von ihm gehört. Von Victor, meine ich«, sagte ich. »Meine Mutter hat nie etwas von ihm erzählt, obwohl er doch ihr Großvater war.«
»Und sie wird dir auch nichts von ihm erzählen.« Großmutters Stimme hatte einen ominösen Ton.
»Warum nicht? Hat sie ihn nicht gekannt? Wenn er ihr Großvater war, dann muß sie doch -«
»Victor Townsend ist vor langer, langer Zeit spurlos verschwunden.« Großmutter blickte in die blauen Flammen des Gasfeuers. »Ich habe ihn auch nie gekannt, obwohl er der Vater meines Mannes war. Er verschwand eines Tages noch vor der Geburt deines Großvaters und wurde nie wieder gesehen.« Ich blickte immer noch fasziniert auf das Gesicht auf der Fotografie. Die noch unausgebildeten Züge des Jungen zeigten schon erste Anzeichen der Willenskraft und der Charakterstärke, die später den Mann auszeichnen würden.
»Und niemand weiß, was aus ihm geworden ist?« fragte ich. »Ach, da gibt es alle möglichen Geschichten. Die einen behaupten, er wäre zur See gefahren. Andere sagen, er hätte sich in Norfolk mit einer anderen Frau zusammengetan. Und wieder andere...« Als sie nicht weitersprach, hob ich den Kopf. »Ja? Was sagen die?«
Doch sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich hab schon zuviel geschwatzt. Lassen wir das. Ich kann dir nur eines sagen: Victor Townsend war ein schlechter und böser Mensch. Er war der Teufel in Person, und als er verschwand, weinte ihm keiner eine Träne nach.«
Ich sah noch eine Weile schweigend auf das Bild, bis plötzlich ein kalter Luftzug durch das Zimmer fuhr und mich in die Gegenwart zurückholte. Widerstrebend legte ich das Foto wieder in den Karton. »Hast du noch andere Bilder von ihnen, Großmutter? Von den Townsends.«
»Ja, es gibt ein ganzes Album.«
»Kann ich es mir ansehen?«
Sie vergrub das Foto in den Tiefen des Kartons und klappte den Deckel so heftig darüber, als hätte sie Angst, es könnte herausspringen. »Ich hab keine Ahnung, wo das Album rumliegt. Das letztemal hab ich es vor Jahren
Weitere Kostenlose Bücher