Haus der Erinnerungen
hatte ich da gesehen? War es Einbildung gewesen? Die Ausgeburt einer überreizten Phantasie? Oder hatte ich diese Szene wirklich miterlebt?
Unten angekommen, tastete ich mich an der Wand entlang zum Wohnzimmer vor.
Von weither vernahm ich ganz schwach die Klänge eines Klaviers. Mich fröstelte. Während ich in dem pechschwarzen, kalten Flur stand, hatte ich den Eindruck, in einer riesigen, klammen Höhle gefangen zu sein, aus der ich niemals hinausfinden würde. Und die zarte Melodie von Beethovens ›Für Elise‹ wehte aus dunklen Höhen zu mir herunter und lockte mich.
»Nein«, flüsterte ich unwillkürlich. Was immer dort oben wartete, ich hatte nicht den Mut, ihm ins Auge zu sehen. In blinder Hast stolperte ich zum Wohnzimmer und atmete tief auf vor Erleichterung, als sie sich unter dem Anprall meines Körpers öffnete.
Aber ich war nicht allein.
Ein junger Mann stand an den Kaminsims gelehnt und lächelte mir entgegen. In der Hand hielt er ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit.
»Ein scheußlicher Abend«, sagte er und winkte mich zum Feuer.
Ich stand wie eine Idiotin an der Tür und starrte in den offenen Kamin, in dem ein prasselndes Feuer brannte. Es war ein richtiges Feuer, die Flammen leckten an den sorgsam aufgeschichteten Scheiten, und die Funken stoben.
Ich sah wieder den jungen Mann an, der mich mit gutmütiger Belustigung fixierte.
»Du bist ja naß bis auf die Haut«, bemerkte er mit leichtem Spott. »Das geschieht dir recht.«
Verdutzt blickte ich an mir hinunter, musterte mein T-Shirt und meine Jeans, die völlig trocken waren. Erst dann drehte ich mich um und blickte über die Schulter nach rückwärts.
Draußen im Flur war ein zweiter junger Mann, der eben einen klatschnassen Umhang am Garderobenständer aufgehängt hatte und die Nässe von seinem Zylinder schüttelte.
Automatisch wich ich zum Büffet zurück. Ich war plötzlich am ganzen Körper wie gelähmt; meine Glieder waren bleischwer und gehorchten mir nicht mehr. Mein Puls raste und dröhnte mir so laut in den Ohren, daß ich meinte, er müßte im ganzen Haus zu hören sein.
Ich weiß nicht mehr, ob Angst und Schrecken oder einfach maßlose Verwunderung mich in diesem Moment lahmten; jedenfalls war ich so gebannt, daß nicht einmal ein Frösteln mich befiel, als der kalte Luftzug mich streifte, den Victor Townsend bei seinem Eintritt ins Zimmer mitbrachte.
»Das reinigt die Luft, John«, sagte er mit volltönender Stimme, während er sich die Hände über dem Feuer rieb. John Townsend ging zur Glasvitrine, holte ein Glas heraus und füllte es aus einer Karaffe mit der dunklen Flüssigkeit, die auch er trank. Dann prosteten die beiden Männer einander zu, tranken und lachten.
Verblüfft erkannte ich, daß sie meine Anwesenheit überhaupt nicht bemerkten.
Die beiden Brüder wirkten sehr gegensätzlich. John, der Jüngere, vielleicht zwanzig Jahre alt, war kleiner und nicht so gutaussehend wie sein Bruder. Dafür waren seine Gesichtszüge weicher, und er strahlte eine sanfte Freundlichkeit aus, die sofort für ihn einnahm.
Victor - mein Urgroßvater (welch seltsame Vorstellung) - hatte dichtes rabenschwarzes Haar und Koteletten, die fast bis zum Unterkiefer reichten. Die großen dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, und zwischen den kräftigen Brauen trat die steile Falte über der Nasenwurzel stark hervor. Er war fast einen Kopf größer als sein jüngerer Bruder, kräftiger gebaut, mit breiteren Schultern, und wirkte dadurch imposanter.
Die Kleider, die sie trugen, dunkle Gehröcke und Nadelstreifenhosen, entsprachen ganz der Mode des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Sie sahen beide sehr elegant aus, wie sie da standen, und galten unter ihren Zeitgenossen zweifellos als Männer von Geschmack.
»Aha, daran hat dir London offensichtlich nicht den Geschmack verdorben«, bemerkte John, als er sah, daß Victor sich noch einmal aus der Karaffe einschenkte.
»Ich bin doch erst ein Jahr weg, John. Du redest, als hättest du großartige Veränderungen erwartet.«
»Ich habe jedenfalls erwartet, daß du gescheiter heimkommst, als du fortgegangen bist. Das King's College hat einen großen Ruf. Was bringen sie euch denn an der medizinischen Fakultät alles bei?«
»Bettgeflüster«, antwortete Victor scherzhaft. John warf den Kopf zurück und lachte.
»Das, lieber Bruder, könntest doch du eher den Londonern beibringen. Aber jetzt mal im Ernst« - er neigte sich mit einem verschwörerischen Lächeln zu Victor
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