Haus der Erinnerungen
waren sofort begeistert von der Idee und drängten sich begierig um mich, sobald das angemeldete Gespräch durchkam. Es war mir unmöglich, ein privates Wort mit meiner Mutter zu sprechen.
Jeder wollte einmal an den Apparat, um ihr guten Tag zu sagen, und als wir schließlich den Hörer auflegten, hatte ich nichts Wesentliches mit meiner Mutter gesprochen.
Ich fühlte mich betrogen. So vieles hatte ich ihr sagen, so vieles hatte ich sie fragen wollen, aber ich war nur eben dazu gekommen, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen, ein wenig von meinem Großvater und dem Alltag bei meiner Großmutter zu berichten und ihr dann zu sagen, daß hier vier Leute Schlange stehen, um mit ihr zu sprechen.
William und May setzten mich auf der Fahrt zum Krankenhaus in der George Street ab. Sie kamen noch einen Moment mit ins Haus, um sich zu vergewissern, daß Großmutter sich wohl fühlte, und ihr zu erzählen, wie nett das Familienessen gewesen war, wie schade, daß sie nicht dabei gewesen war. Und während sie schwatzten, machte ich mir Vorwürfe, daß ich mich, kaum waren wir durch die Tür getreten, wieder von der Atmosphäre des Hauses hatte einfangen lassen. Ich sollte mehr um das Befinden meines Großvaters besorgt sein, hielt ich mir vor, anstatt mich auf diese morbide Weise von dem Haus besetzen zu lassen. Um neun, als wir beide wieder vor dem Kamin saßen, in dem das Gasfeuer brannte, schaltete Großmutter das Radio ein, um sich die von ihr so geliebte ›Stunde schottischer Musik‹
anzuhören. Ungefähr fünf Minuten, nachdem die Dudelsäcke zu wimmern angefangen hatten, ging es wieder los.
Wir lehnten beide bequem in unseren Sesseln und hörten schweigend der Musik zu, als mir auffiel, daß die Uhr zu ticken aufgehört hatte.
Ich starrte sie an wie hypnotisiert.
Wie aus weiter Ferne vernahm ich dann die Klänge eines schlecht gestimmten Klaviers - wieder war es die Melodie von ›Für Elise‹, diesmal jedoch wurde sie von geübterer Hand gespielt als zwei Abende zuvor.
Ich drehte den Kopf und sah meine Großmutter an. Sie lehnte mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel und summte leise das Lied der Dudelsäcke mit. Der Moment schien eine Ewigkeit anzudauern, als wäre die Zeit zum Stillstand gekommen und wir in einem Raum zwischen zwei Wirklichkeiten gefangen. Ich starrte meine Großmutter ungläubig an.
Wie war es möglich, daß sie das Klavierspiel nicht hörte!
Mir wurde heiß im Gesicht. Das Zimmer schien immer enger zu werden. Ich bekam Angst, als mir klar wurde, was geschah. »Großmutter!« Sie öffnete die Augen nicht.
Das Klavierspiel wurde lauter. Es war jetzt sehr nah und umgab mich von allen Seiten.
Das Pfeifen der Dudelsäcke rückte immer weiter in den Hintergrund.
»Großmutter...«
Endlich blickte sie auf. »Was ist denn, Kind?« In dem Moment, als sie die Augen öffnete, brach das Klavierspiel ab. Ich sah zur Uhr hinauf. Sie tickte wieder. »Ich bin wahnsinnig müde, Großmutter.« Ich rieb mir mit beiden Händen das Gesicht. »Macht es dir was aus, wenn ich zu Bett gehe?«
»Aber gar nicht. Wie gedankenlos von mir, dich wachzuhalten.« Sie griff nach ihrem Stock und wollte aufstehen. »Bleib sitzen, Großmutter. Du brauchst nicht aufzustehen.«
»Na hör mal? Ich werd doch nicht hier unten sitzen bleiben, wenn du schlafen willst.«
»Wieso -«
»Dein Nachthemd und dein Morgenrock liegen schon unter dem Kissen. Ich wollte nicht, daß du erst wieder durchs kalte Treppenhaus nach oben mußt.«
Verwirrt blickte ich zum Sofa hinüber und sah, daß Kissen und Decken schon bereit lagen. Jetzt verstand ich, was sie meinte. »Ich soll heute nacht hier unten schlafen?«
»Aber sicher. Du hast es hier so schön warm gehabt und so gut geschlafen, warum sollst du da wieder in das kalte Zimmer hinauf?«
»Ach, aber -« Ich wollte nicht hier unten schlafen, ich verstand es selbst nicht. Ich wollte wieder hinauf ins Vorderzimmer. Ich hätte mich fragen sollen, was hinter diesem widersinnigen Wunsch, oben zu schlafen, steckte, aber ich tat es nicht, sondern versuchte nur stockend, meiner Großmutter eine Erklärung zu geben. »Das war gestern nacht was anderes«, sagte ich. »Da hatte ich einen Alptraum. Das passiert heute nacht bestimmt nicht wieder.
Wirklich, Großmutter, ich fühl mich wohl da oben -«
»Gib dir keine Mühe, Kind. Ich weiß, es ist meine Schuld. Ich hab dir ständig vorgejammert, wie teuer das Gas ist und wie sparsam wir mit Gas und Strom umgehen müssen, und jetzt kannst du
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