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Haus der Erinnerungen

Haus der Erinnerungen

Titel: Haus der Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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herzzerreißend.
    Ich weiß nicht, wie lange ich reglos dastand und sie anstarrte. Ich hatte keine Angst, aber ich war völlig fasziniert. So gefangen war ich von dem Bild, das wie Realität schien und doch nur Täuschung sein konnte, daß ich erst erschrak, als das Mädchen den Kopf hob. Was würde geschehen, wenn sie mich entdeckte? Aber dann geschah etwas Seltsames. Das Mädchen richtete in der Tat ihren Blick auf mich, und ich erkannte fast im selben Moment, obwohl ich erschrocken zusammenfuhr, daß sie mich nicht sah. Nein, sie blickte einfach durch mich hindurch. Mit hämmerndem Herzen starrte ich wie gebannt in das reizlose Gesicht des Mädchens und erkannte, daß es dasselbe Mädchen war, das ich auf dem Foto der drei Townsend-Kinder gesehen hatte. Nur älter war sie jetzt. Harriet Townsend, Schwester von Victor und John.
    Langsam setzte sie sich auf. Die langen Locken fielen ihr über die Schultern. Ihr Gesicht war verschwollen vom Weinen, doch jetzt schien sie sich gefaßt zu haben und hielt den Blick auf etwas oder jemand gerichtet, der sich hinter mir befand. Als sie zu sprechen begann, zuckte ich zusammen. So real die Szene erschien, das hatte ich nicht erwartet.
    »Es ist mir gleich, was Vater sagt«, erklärte sie trotzig mit schmollend vorgeschobenen Lippen. »Ich bleibe hier oben und esse nichts mehr, bis ich verhungert bin.
    Ich bin ihm ja sowieso gleichgültig.“
    Immer noch blickte sie durch mich hindurch, als lausche sie den Worten des unsichtbaren Gegenübers. Dann warf sie zornig den Kopf in den Nacken und sagte: »Warum mußte Victor fortgehen? Er mußte doch gar nicht. Vater wollte, daß er hier bleibt und im Werk arbeitet. Aber nein, Victor mußte seinen Kopf durchsetzen. Ich wünsche ihm nur, daß er in London schrecklich unglücklich wird. Und ich hoffe, er schneidet sich und stirbt an einem Gift.«

    Bei der Antwort ihres Gegenübers verzog sie ärgerlich das kleine Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, wer mit ihr sprach, aber es war nicht schwer, die Lücken des Dialogs zu füllen.
    »Das ist mir egal! Du kannst Vater ausrichten, daß ich mich im Schrank einsperre und nie wieder einen Bissen zu mir nehme. Victor hat versprochen, daß er nie fortgehen würde. Er hat es mir versprochen!«
    Harriet Townsend durchdrang mich mit herausfordernd blitzendem Blick. Doch schon im nächsten Moment wandelte sich ihr Trotz in Erschrecken und dann in Furcht. Ihre Augen weiteten sich, der Mund öffnete sich zum Schrei. »Schlag mich nicht!« flehte sie und kroch hastig zur anderen Seite des Betts. »Es tut mir leid. Ich hab's nicht so gemeint. Bitte, bitte, schlag mich nicht.« Sie hob abwehrend die Arme, während sie immer wieder schrie: »Nicht!
    Bitte, nicht!« Ich stürzte zum Bett und rief: »Harriet -«
    Das Licht an der Decke flammte auf. Ich drehte mich verwirrt um.
    »Was tust du hier oben?«
    Ich zwinkerte geblendet, dann sah ich meine Großmutter, die an der offenen Tür stand.
    Auf ihrem Gesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck.
    »Ich-ich-«
    »Du solltest schlafen«, sagte sie.
    Ich sah mit offenem Mund zum Bett hinüber. Dort lag mein aufgeklappter Koffer, sein Inhalt über der Steppdecke verstreut. Das gespenstische Licht war ebenso verschwunden wie Harriet, selbst die beißende Kälte im Zimmer schien etwas gemildert. Ungläubig sah ich wieder meine Großmutter an. Hatte sie denn nichts gesehen? Hatte sie nichts gehört?
    »Meine - meine Hausschuhe«, erklärte ich verlegen. »Ich wollte meine Hausschuhe holen.«
    »Ich hörte dich sprechen.«
    »Ja.« Ich fuhr mir mit den Fingern durch das Haar. »Ich hab mir im Dunklen das Schienbein angestoßen. -Ach, da sind sie ja.« Ich bückte mich und hob meine Hausschuhe auf. Wir gingen hinaus und knipsten das Licht aus. Ich fragte mich, wie lange meine Großmutter hinter mir gestanden, wieviel sie gesehen und gehört hatte. Als ich mich vor der Tür zu ihrem Zimmer von ihr trennte, gab sie mir einen Kuß auf die Wange. »Gute Nacht, Kind. Schlaf gut. Und bleib unten, wo es warm ist, sonst holst du dir noch eine Erkältung.«
    Bevor sie in ihrem Zimmer verschwand, schaltete sie das Flurlicht aus, und mit einem Schlag war das ganze Haus wieder in schwarze Finsternis getaucht. Ich stand an der Treppe, ohne die Stufen erkennen zu können, und fühlte mich noch ganz im Bann der rätselhaften Begegnung mit Harriet Townsend. Langsam, wie im Traum, stieg ich die Treppe hinunter und hatte dabei die ganze Zeit ihre klägliche kleine Stimme im Ohr.
    Was

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