Haus der Erinnerungen
Er lächelte. »Sie müssen einmal nach Edingburgh kommen.« Jennifer senkte wieder die Lider, und ihre Schultern wurden schlaff. »Ach, Schottland ist so weit weg. Ich fürchte, da werde ich nie -«
»Jennifer! Wenn ich Sie so nennen darf. Vielleicht kann ich eines Tages zu Besuch nach Warrington kommen. Werden Sie dann hier sein?«
Sein drängender Ton erschreckte sie ein wenig. »Mein Vater hat nicht die Absicht noch einmal umzuziehen. Ich bin sicher, daß wir in Warrington bleiben werden. Aber werden Sie denn zurückkommen? Können Sie zurückkommen?«
Mit einer heftigen Bewegung drehte sich Victor von ihr weg und sagte, beide Hände auf den Kaminsims gestützt, mit erstickter Stimme: »Ich kann niemals zurückkommen.
Solange dies das Haus meines Vaters ist, kann ich nicht zurückkommen. Ich bin nicht mehr sein Sohn. Wenn Sie in der Tat Harriets Freundin sind, und sie mit Ihnen spricht, dann müssen Sie von dem Zwist zwischen mir und meinem Vater wissen...«
»Ja, sie —«
»Dann müssen Sie wissen, daß ich selbst jetzt eigentlich nicht hier sein dürfte, denn es würde ihn von neuem erzürnen, und er würde mich hinauswerfen, sollte er mich hier vorfinden. Selbst jetzt...« Die Stimme versagte ihm. »Er wird jeden Moment heimkehren, und ich muß gehen. Es tut mir leid, daß ich Sie so abrupt und unhöflich verlassen muß. Es ist wahrhaftig nicht mein Wunsch. Aber ich habe keine andere Wahl.«
Zorn und Hoffnungslosigkeit spiegelten sich in seinen Augen, als er sich umdrehte.
Warum gerade jetzt? schrie es in ihm. Warum mußte ich dieser Frau gerade jetzt begegnen ?
Jetzt, da ich für immer fort muß. Die Qual ist unerträglich.
»Victor«, sagte ich plötzlich, und mein Herz schlug im Takt mit dem seinen.
»Wir können niemals Freunde werden, Jennifer«, fuhr er fort, »weil wir einander nie wiedersehen werden. Ich kann niemals in dieses Haus zurückkehren.«
Ich sprang auf und streckte den Arm nach ihm aus. »Victor! Hör mir zu!«
Aber meine Hand griff ins Leere, und ich war wieder in Großmutters schäbigem alten Wohnzimmer.
9
Ich stand am Fenster und blickte in einen grauen regnerischen Morgen hinaus, als sie ins Zimmer kam. Ich war seit Tagesanbruch auf. Ich hatte nur wenige Stunden geschlafen, und selbst da hatten mich merkwürdige, beunruhigende Träume heimgesucht. Sie erschrak wahrscheinlich, als sie mich da im dunklen, kalten Zimmer stehen sah.
»Andrea!« rief sie. »Ich habe nicht erwartet, daß du schon auf bist.« Sie knipste das Licht an. »Wieso ist es hier so kalt ?« Ich hörte, wie sie durch das Zimmer humpelte. Laut schlug ihr Stock auf den Boden. Dann rief sie entsetzt: »Das Gas ist ja aus! Kind, hast du nicht gemerkt, daß das Gas ausgegangen ist ?«
»Doch, Großmutter«, antwortete ich ruhig. »Ich habe es selbst ausgedreht.«
»Was ? Aber was ist denn nur in dich gefahren ? Es ist ja eiskalt hier drinnen. Warum hast du das Gas abgestellt?« Ich antwortete nicht, sondern blieb schweigend am Fenster stehen und sah hinauf auf die moosbedeckten Mauern und die dürren Rosenbüsche. Meine Großmutter humpelte zum Büffet, zog eine Schublade auf, nahm etwas heraus, kehrte zum Kamin zurück und zündete das Gas wieder an. Man konnte es leise zischen hören, aber es war nicht das Knistern und Prasseln des Holzfeuers, das einmal in diesem Kamin gebrannt hatte.
»Fühlst du dich nicht wohl, Kind? Stehst da in deinem dünnen Hemdchen wie versteinert. Komm, machen wir uns eine Tasse Tee.«
Schwerfällig bewegte sie sich durch das Zimmer, in dem zu viele Möbel standen, und humpelte in die Küche. Ich blieb am Fenster stehen. Der graue Morgen spiegelte meine Stimmung. »Der Nebel ist weg!« rief Großmutter aus der Küche. »Siehst du schon einen Sonnenstrahl?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ja?« Sie erschien an der Tür. »Kommt die Sonne raus, Kind?«
»Nein, Großmutter. Der Himmel ist voller Wolken.«
»Natürlich. Hätte ich mir ja denken können. Bestimmt ist der Sturm schon im Anzug.
Wir haben immer eine Menge Regen um diese Jahreszeit, weißt du...« Sie klapperte mit Töpfen und Tellern, während sie weiter schwatzte. »Aber dieses Jahr hatten wir einen herrlichen Sommer. Es war richtig heiß. Wir hatten eine Hitzewelle. Zwei Wochen lang jeden Tag um die zweiundzwanzig Grad. Aber jetzt bezahlen wir dafür. Bestimmt bekommen wir zu Weihnachten schon Schnee. Meistens kommt er erst später. Aber dieses Jahr, ich fühl's in meinen alten Knochen...« Ich hörte ihr
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