Haus der Erinnerungen
Elsie redete dafür um so mehr, während sie mir auf der Fahrt sämtliche Sehenswürdigkeiten Warringtons zeigte: Das Stahlwerk und das Rathaus, das neue Mark's and Spencer's und den alten Woolworth, wo »deine Mutter und ich während des Krieges gearbeitet haben«. Ich nickte höflich lächelnd, obwohl mir ihr unablässiges Geschwätz auf die Nerven ging. Für meine lebenden Verwandten konnte ich nicht viel mehr aufbringen, als bemühte Toleranz; ich wollte mit den toten Zusammensein.
Mein Großvater lag wieder regungslos im Bett und war nicht ansprechbar. Das hielt Elsie und Edouard nicht davon ab, die gewohnten einseitigen Gespräche mit ihm zu führen.
Ich begnügte mich damit, an seinem Bett zu sitzen und die magere alte Hand zu halten. Es brachte mir sonderbarerweise einen gewissen Frieden.
Zu Hause empfing uns Großmutter mit einem liebevoll zubereiteten Mittagessen, aber ich hatte kaum Appetit. Während ich der Form halber ein paar Bissen zu mir nahm, informierte Elsie ihre Mutter über die letzten Neuigkeiten von Warrington: wer heiraten wollte, wer schwanger war, wer in Scheidung lag. Warrington war wie jede andere Kleinstadt
- Geheimnisse gab es nicht. Aber ich, dachte ich mit einem heimlichen Lächeln, ich habe ein Geheimnis.
Während ich meine redselige Tante beobachtete, erwog ich flüchtig, ihr von meinen Erlebnissen in diesem Haus zu erzählen. Aber ich schlug mir den Gedanken gleich wieder aus dem Kopf, da ich erkannte, daß das zu nichts führen würde. Elsie würde meine Erzählungen abtun und auf ihre robuste, pragmatische Art darauf bestehen, daß ich mir das alles nur eingebildet hatte. Außerdem hatte ich immer noch Angst, daß es die fragile Verbindung zur Vergangenheit zerstören würde, wenn ich einem anderen Menschen von meinen Erfahrungen berichtete.
»Ich hab übrigens gute Nachrichten«, sagte Elsie plötzlich. »Ich hab ganz vergessen, es dir zu sagen, Mama. Ann hat heute morgen aus Amsterdam angerufen. Sie kommt am Sonntag auch nach Morecambe Bay zu Albert.«
»Ach, wie schön!« Großmutter strahlte mich an. »Für dich wird es bestimmt nett, deine jüngeren Verwandten kennenzulernen, Andrea. «
»Ja, ich glaube, es wird dir guttun, zur Abwechslung mal mit Leuten in deinem Alter zusammenzusein«, pflichtete Elsie ihr bei. Ich senkte hastig die Lider. Wie alt war Victor gestern abend gewesen? Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig ? Und John ein wenig jünger.
»Es wird dir gefallen bei Albert. Er hat ein sehr hübsches Häuschen, und das Kleine...«
Während sie erzählte, dachte ich, es wäre sicher nett hinzufahren, aber was, wenn das Haus mich nicht ließ ? Elsie und William brachen bald nach dem Essen wieder auf.
Großmutter brachte sie hinaus. Ich blieb am Tisch sitzen. Beide Schienbeine taten mir so höllisch weh, als hätte ich mir den schlimmsten Sonnenbrand geholt. Ich hörte die drei draußen miteinander sprechen, dann wurde die Tür zugeschlagen, Großmutter sperrte ab und kam wieder ins Zimmer. »Du denkst wohl an deinen Großvater, hm?« fragte sie, als sie mich noch immer am Tisch sitzen und zum Fenster hinausstarren sah.
Ich drehte ein wenig den Kopf. »Ja«, sagte ich, aber in Wirklichkeit hatte ich an ›die anderen‹ gedacht.
Der endlose Nachmittag ging in einen endlosen Abend über. Meine Beine brannten jetzt so unerträglich, daß sie keinerlei Berührung vertragen konnten. Ich hatte die Hosenbeine meiner Jeans bis zu den Knien hinaufgerollt und mich soweit wie möglich vom Feuer weggesetzt. Großmutter strickte zufrieden vor sich hin.
Als ich Harriet in meinem Sessel sitzen sah, weit vorgebeugt und eifrig mit irgend etwas beschäftigt, das auf ihrem Schoß lag, warf ich einen Blick zu meiner Großmutter und stellte fest, daß sie eingeschlafen war. Friedlich schlummerte sie in ihrem Sessel. Vor ihr brannte ein helles Feuer, an den Wänden mit der bunten Tapete brannten die Gaslampen, auf zierlichen Tischchen stand Nippes, und sie war ihrer Umgebung überhaupt nicht gewahr.
Aber wenn sie nun plötzlich erwachte, würde das alles dann verschwinden ?
Ich neigte mich vor, um sehen zu können, was Harriet tat. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß liegen, mehrere Bögen Papier und einen Briefumschlag. In der Hand hielt sie eine Feder. Offenbar war sie dabei, einen Brief zu schreiben.
Ich beugte mich noch weiter vor, um genauer sehen zu können, aber aufzustehen wagte ich nicht. Ja, sie schrieb einen Brief. An Victor vielleicht ? dachte ich, aber dann fiel mir
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