Haus der Erinnerungen
berührten, als sie sich setzte. Sie nahm Harriets Hände zwischen die ihren und rieb sie behutsam. »Du bist ganz durchgefroren. Und wie blaß du bist! Wo warst du denn bei diesem Wetter, Harriet ?« Harriets Versteinerung löste sich ein wenig. »Wo sind die anderen, Jenny?« fragte sie mit tonloser Stimme. »Wo sind Mutter und Vater ?«
»Vater ist noch im Werk, und Mutter ist bei einem Krankenbesuch bei Mrs.
Pemberton. Und John - ich weiß nicht genau, wo John im Augenblick ist. Sag mir doch, was mit dir ist.« Harriet drehte den Kopf zum Feuer und starrte in die Flammen. Wieder bewegten sich ihre weißen Lippen, und wieder versagte ihr die Stimme.
Jennifer musterte sie tief besorgt. Während ich die Szene beobachtete, gewann sie etwas Traumhaftes, Unwirkliches, das teilweise auf der Stille beruhte und den tanzenden Schatten an den Wänden, vor allem aber auf Harriets befremdlichem Verhalten.
»Ich war bei ihm«, flüsterte sie schließlich. »Was hast du getan, Harriet?«
»Ich bin zu ihm gegangen. Genau wie du gesagt hast.« Harriet drehte den Kopf und richtete den seltsam leeren Blick auf Jennifer. Dann sagte sie ein wenig lauter: »Ich bin zu Scan gegangen und habe ihm gesagt, was mit mir los ist.«
»Und was hat er gesagt ?«
»Er sagte, es wäre meine eigene Schuld.« Harriets Gesicht war so ausdruckslos wie ihre Stimme. »Er hätte damit nichts zu tun. Und er sagte, daß er fortgeht.«
»Er geht fort?« Jennifer ließ sich in ihrem Sessel zurückfallen. »Scan O'Hanrahan geht fort? Wohin denn?«
»Ich weiß es nicht. Aber sogar während ich bei ihm war, hat er gepackt. Er sagte etwas davon, daß er nach Belfast zurück will.«
»Aber - aber du hast ihm doch gesagt, was mit dir -«
»Daß ich ein Kind bekomme ? O ja, das habe ich ihm gesagt. Und er ist wütend geworden. Als hätte ich es ganz allein getan. Ich habe ihn daran erinnert, daß er immer vom Heiraten gesprochen hat, wenn wir draußen bei der alten Abtei waren, und daß er immer sagte, er wolle mich so bald wie möglich heiraten. Aber das war damals, Jenny, und jetzt will er mich ganz offensichtlich nicht mehr heiraten.«
»Ach, Harriet!« Jennifer begann wieder, Harriets Hände zu reiben, als könnte sie die Freundin so zum Leben erwecken. Nicht einmal die glühenden Farben des Feuerscheins konnten Harriets Gesicht einen Anschein von Lebendigkeit verleihen. »Harriet«, sagte Jennifer wieder voller Mitgefühl. Obwohl wie Jennifer fast zwanzig Jahre alt, war Harriet immer noch sehr kindlich. Doch das Leben war im Begriff, ihr eine grausame Lektion zu erteilen, und die ernüchternde Wirkung begann schon, sich auf ihrem Gesicht zu zeigen.
»Und dann bin ich zu ihm gegangen«, sagte sie, den Blick wieder ins Feuer gerichtet.
»Zu Scan, meinst du ?«
»Zu ihm, genau wie du mir geraten hast. Ich wußte nicht, wohin. Vater könnte ich es niemals sagen, er würde mich schrecklich bestrafen. Du hast ja keine Ahnung, wie er mich behandelt hat, als er entdeckte, daß Scan und ich uns Briefe schrieben. Diesmal würde er mich bestimmt nicht bloß in den Kleiderschrank sperren. Diesmal würde er etwas viel, viel Schlimmeres tun.«
»Er hat dich in den Kleiderschrank-«
»Ja, das hat er immer getan, weißt du«, fuhr sie fort, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. »Immer, wenn er mich strafen wollte, hat er mich in den Schrank gesperrt. Am Ende habe ich nie mehr aus Respekt oder aus Liebe gehorcht, sondern nur noch weil ich so eine grauenhafte Angst davor hatte, wieder in den Schrank gesperrt zu werden. Ich konnte es nicht aushaken, Jenny. Es war furchtbar. Ich hockte in dem dunklen Schrank, in den nirgends auch nur der kleinste Lichtschimmer hereinfiel, und hörte, wie er den Schlüssel umdrehte. Und dann wartete ich verzweifelt darauf, daß er endlich wiederkommen und mich herauslassen würde. Immer hatte ich Angst, er würde mich vergessen, und ich würde da drinnen sterben. Anfangs habe ich geschrien, dann hab ich nur noch gewimmert und gebettelt und wie eine Wahnsinnige an der Tür gekratzt. Es war ein Gefühl, als würde ich lebendig begraben. Aber er kam immer zurück und holte mich heraus.
Einmal - da schrie und heulte ich so laut, daß er zurückkam und mich herausholte. Er schlug mich fast bewußtlos, und dann sperrte er mich wieder ein und ließ mich die ganze Nacht drinnen. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Und das gleiche würde er jetzt mit mir tun, Jenny, oder noch was viel Schlimmeres. Vater ist sehr korrekt und
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