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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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und atmet den Rauch aus. Dann schweigen wir wieder. Ich fahre die Helgoländer Allee entlang über den Millerntorplatz zur Glacischaussee. Darius drückt die Zigarette aus, ich stelle das Radio an. Musik spült die Atmosphäre im Auto weich. Nach der Werbung erzählt der Nachrichtensprecher von Attentaten im Irak und von anhaltendem Frost. Die ganz normale Routine einer Fahrt, aber in mir pocht erwartende Anspannung.
    »Und?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortet Darius. »Mit den Jahren verliert man das Gefühl dafür und ich habe nichts, worin ich nachschlagen könnte. Es ist, als lebte ich schon immer.«
    Im Radio haucht ein Mädchen so naiv, es wolle nur spielen, dass man meint, ihrer Stimme und dem Text das blonde Haar anzuhören. Ich fahre durch die Rentzelstraße.
    »Was ist deine älteste Erinnerung?«
    Darius zupft am Gurt, streckt die Beine aus. »Auch das weiß ich nicht. Ich habe nicht viele Erinnerungen. Du bist eine von den wenigen. Mein Leben findet immer in der Gegenwart statt.«
    Ich frage mich, ob er mir nur schmeichelt. Aber seine Erlebnisse können längst die Dimension dessen überschritten haben, was sich speichern lässt. Dann muss er vergessen, um nicht überzuquellen. Warum kann er sich dann gerade an mich erinnern? Weshalb ich es an ihn kann, ist klar. Er hat zu viel Eindruck hinterlassen, zu tiefe Gefühle. Und er war viel zu plötzlich fort, ohne eine Spur zu hinterlassen, der ich folgen konnte.
    »Wo wohnst du?«
    »Mal hier, mal dort. Es ist schwer, heutzutage eine Wohnung zu bekommen, wenn man kein Bankkonto und keine Papiere hat. Zum Glück muss ich mir ja um meine Gesundheit keine Sorgen machen. Ich komme bestimmt nicht um.«
    All die Vorwürfe, die noch in meinem Körper stecken, werden langsam zu Schuldgefühlen. Er hat mich verlassen. Und die Gründe habe ich nur in mir gesucht, nie in ihm. Jetzt höre ich Bitterkeit in seinen Worten, nicht in seinem Ton. Es klang nicht sarkastisch, was er sagte, sondern ganz nüchtern. Es klang ehrlich, wenn er »zum Glück« sagte, sogar ehrlich dankbar. Dankbarer, als ich es war, die letzten Tage in München auf der Suche nach ihm. Ich hatte von seinem Leben schmecken dürfen, nachdem er gegangen war.
    »Damals in München hatte ich die Papiere eines gestrandeten Soldaten. Er hieß Darius Beckmann. Im Januar 1954 hatte ihm die Stadt noch einen Empfang bereitet, als er aus weißrussischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Doch bei seiner Frau lebte ein Amerikaner, seine Eltern waren tot und eine Bleibe fand er nur in einem der Flüchtlingslager, die nach und nach geschlossen wurden. Ich traf ihn im Dezember in einer der Gaststätten, die von der Stadt als Wärmestuben eingerichtet waren. Erinnerst du dich?«
    Ich nicke, während ich gerade an eine rote Ampel an der Hallerstraße fahre und herunter schalte. »Ein paar Erinnerungen scheinen dir ja geblieben zu sein.«
    »Die Wohnung in München ist mit dir verbunden. Natürlich erinnere ich mich an sie.« Er lacht. Zum ersten Mal, seit ich ihn wiedersehe, lacht er. »Wie ich an sie gekommen bin, hättest du mich vor einer Stunde aber nicht fragen dürfen. Bei konkreten Fragen, oder wenn ich etwas erzählen will, kommen manchmal die Ereignisse zurück, so als schraubten sie sich auf Abruf an die Oberfläche, wenn ich sie gebrauche. Wenn du mich aber nach der ältesten Erinnerung fragst, kann ich dir keine nennen.«
    Die Ampel schaltet wieder auf grün, ich kann in die Hochallee fahren. Es dauert noch, bis ich zum Brombeerweg komme, in dem ich ein kleines Haus direkt am Alsterlauf habe. Ich bin Bayer, aber ich habe immer das Wasser gesucht. In München lebte ich in der Nähe der Isar, in Hamburg zunächst beim Fischmarkt, später in Farmsen. Doch weil das Wasser dort zu weit fort war, bin ich nach Fuhlsbüttel gezogen. Dort ist der Fluss zwar zu schmal und flach für Schiffe, aber er führt Wasser mit sich.
    »Ich erinnere mich an die Wärmestuben«, sage ich. »Alle zehn Tage wurde Musik gespielt, oder es war eine Künstlergruppe zu Gast. Deshalb war ich ab und zu dort. Unter den Künstlern waren manchmal Menschen wie du und ich.«
    »Wie du und ich«, wiederholt Darius und legt mir die Hand aufs Knie. »Zum Glück müssen wir das heute nicht mehr so verklemmt ausdrücken.«
    Kurz erschrecke ich, auch wenn die Erektion, die ich beim Hafen noch hatte, vergangen ist und die Anspannung während seiner Erzählung und seines Lachens nachgelassen hat.
    »Dieser Beckmann wusste nicht, dass ich keine Papiere

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