Haus der roten Dämonen
Leinwand wurde, desto plastischer wurde der Käfig. Und dann hörte Jan Vogelstimmen. Ein Zwitschern und Kreischen war es, das von weither kam und das mit jedem Atemzug, den er tat, lauter wurde. Plötzlich begannen Bild und Wirklichkeit zu flimmern, als gäbe es zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis, und der Käfig stand auf dem Tisch des Malers. Jan rieb sich die Augen. Die Vögel wirkten echt. Der
Käfig glänzte golden – und das Gezwitscher füllte die Ohren.
»Wie habt Ihr das gemacht?«, fragte er seinen Meister.
Jans Blick wanderte zwischen dem Käfig mit den Exoten darin und der Leinwand hin und her. Das Gemälde wies eine weiße Fläche auf, die zuvor vom Abbild des Käfigs ausgefüllt worden war. Auch die Vögel auf dem Gemälde waren verschwunden.
»Ihr seid ein wahrer Magier!«, flüsterte Jan.
Messer Arcimboldo lachte verhalten. »Leider nicht. Dazu braucht es kein Talent, nur eine Gabe. Ich brauche dazu unter anderem das Blut eines Menschen, der in der nächsten halben Stunde stirbt. Deshalb habe ich Contrario erschaffen. Er sollte mir das nötige Blut beschaffen.«
Aber er hat nicht auf einen natürlichen Tod gewartet, sondern die Menschen gezielt getötet, dachte Jan für sich. Langsam begann er die Zusammenhänge zu begreifen.
»Was ich allerdings befürchte, ist«, so fuhr Messer Arcimboldo fort, »dass Contrario mir von diesem Firnis gestohlen hat und jetzt selbst solche Wesen in die Welt setzt. Nur erheblich schlimmere.«
»Das tut er«, bestätigte Jan. Plötzlich stellten sich ihm die Nackenhaare auf. »Ihr glaubt, der Leu … sei von Contrario?«
Der Maler nickte müde. »Ich weiß nicht, wie er es macht.« Denn neben dem Firnis brauchte es offenbar noch etwas anderes. Julia hatte ihm davon erzählen wollen, war jedoch nicht mehr dazu gekommen.
»Aber dann …«, er schluckte den Namen hinunter, den er eben hatte aussprechen wollen. Julia war in Gefahr. Contrario-Buntfinger hatte gedroht, das »Gör« zu zermalmen. Rasch blickte er hoch. Sein Meister schien unendlich müde zu sein.
»Sie war bei mir«, sagte Messer Arcimboldo. »Sie hat mir vorgeworfen, ich würde durch meinen Adlatus Menschen töten wie ihren Großvater«, sagte er leise. »Sie wusste es wohl von dir. Oder ahnte es zumindest.«
Jan nickte leicht. Dass Julia es von Rabbi Löw wusste, verschwieg er. Auch ihm kroch langsam die Müdigkeit in die Gliedmaßen, doch einen Gang musste er noch tun. Einen Gang, der ihm keineswegs unangenehm war: Er musste Julia warnen.
18
Vision des Bösen
E in Luftzug aus dem Nirgendwo schloss die Tür und der Sperrbalken fiel hinter dem Rabbi wie von selbst in die Angeln.
Julia lief ein Schauer über den Körper, weil es plötzlich kühl geworden war.
»Ja, ich bin Jude.« Die Stimme des Rabbi klang tief und melodisch und doch zu keinem Zeitpunkt feindlich.
»Was wollt Ihr …«, begann Julias Vater.
»Papa!«, unterbrach ihn Julia. »Bitte Rabbi Löw ins Haus. In die Stube! Vater!«
Ihr Vater wirkte, als wache er aus einem Traum auf. Er blinzelte, räusperte sich, schließlich blickte er den Rabbi erneut an, als sehe er ihn zum ersten Mal. »Kommt herein! In die Gaststube. Bring uns etwas zu trinken, Kind. Zwei Seidel Bier.«
In Windeseile lief der Scholar die Treppe hinab und öffnete die Wirtsstube, aus der es biersauer roch. Mit einer
Geste und einem Lächeln, die sowohl Respekt als auch Verehrung andeuteten, bat der Student den Geistlichen in die Stube, was von Julias Vater mit einem verwunderten Blick registriert wurde.
»So schnell habe ich Euch noch nie laufen sehen!«, flüsterte Julia dem Scholaren zu, als sie an diesem vorüberging.
»Ich bin auch noch niemals dem Rabbi persönlich begegnet. Das ist … das ist … etwas ganz Besonderes!«
Ihr Vater und der Rabbi saßen sich an einem der hölzernen Tische gegenüber. Sie musterten sich gegenseitig stumm. Julia konnte in den Augen des Vaters seinen Widerwillen erkennen, mit solch einem Mann zusammen sein zu müssen. Julia lief zum Bierfass hinüber, nahm zwei Seidel vom Haken und füllte sie. Als das Bier auf dem Tisch stand, brach ihr Vater endlich das Schweigen.
»Was willst du hier im Christenteil der Stadt, Jude?«
Der Rabbi ließ gerade so viel Zeit verstreichen, dass es nicht provozierte, jedoch so wirkte, als würde er nicht direkt auf die Frage antworten, die ihm gestellt worden war.
»Ich heiße Judah Löw und bin Rabbiner der jüdischen Gemeinde in der Josefstadt. Eure Tochter Julia kam mich
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