Haus der Sünde
diesem Wort für ihn entweder um etwas völlig Fremdes handelte oder als ob ein Doktor eine besondere, geheimnisvolle Bedeutung für ihn besaß. »Ich glaube nicht, dass ich einen Arzt aufsuchen will. Zumindest vorerst nicht. Mein Kopf tut überhaupt nicht weh«, fuhr er fort und ließ Claudia an ein starrsinniges Kind denken, das sich weigerte, sein aufgeschlagenes Knie verarzten zu lassen. »Hast du nicht gesagt, dass dein Gedächtnis nach vierzehn Tagen von ganz allein wiederkam? Vielleicht ist dies bei mir ja auch der Fall.«
»Oder vielleicht nicht«, widersprach Claudia, in der sich erneut ein leiser Verdacht regte.
»Ich will aber nicht untersucht und genau analysiert werden, als wäre ich ein Irrer!«, protestierte er mit einer plötzlichen Heftigkeit, die sie verblüffte. Er riss die Hand fort.
»So wäre das doch aber gar nicht«, erklärte Claudia und dachte an ihren Hausarzt, der ein ausgezeichneter Mediziner war, aber zu jener Sorte von Menschen gehörte, die nicht lang um den heißen Brei herum redeten, sondern sofort auf den Punkt kamen. Er stellte stets viele Fragen, und zwar auf eine sehr direkte und manchmal sogar brüske Art.
Als sie gerade darüber nachdachte, ob es nicht vielleicht doch besser wäre, mit Paul in die Notaufnahme einer Klinik zu gehen, wo man sich nicht so um ihn kümmern würde, sondern das Ganze wesentlich unpersönlicher wäre, kam ihr auf einmal eine andere Idee. Sie erinnerte sich an eine kurze Unterhaltung bei Geralds Beerdigung und an einen angenehmen, wenn auch recht seltsamen Anruf kurz danach.
»Ich weiß, dass ich nicht Ihre Hausärztin bin. Aber falls Sie jemals jemanden zum Reden brauchen sollten, dann können Sie mich jederzeit anrufen. Entweder hier im Cottage oder in meiner Praxis in London. Selbst wenn es sich nur um ein kurzes Gespräch handelt … Vielleicht kann ich Ihnen ja behilflich sein.«
Und das kann sie vielleicht wirklich, dachte Claudia, fasste erneut nach Pauls Hand und brachte ihn dazu, sie anzusehen. »Nun hör mir mal zu. Vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit«, erklärte sie ihm, während sie rasch nachdachte. »Ich kenne eine Frau … sie ist Ärztin, aber auch eine Art Freundin. Wenn ich sie anrufe, würdest du dann wenigstens damit einverstanden sein, sie kennen zu lernen? Ich kann dir versprechen, dass sie dich bestimmt nicht wie einen Irren behandeln wird.«
Kapitel 5
Auf ärztliche Anordnung
Es könnte natürlich sein, dass sich die Ärztin weitaus eher als eine Verrückte herausstellt als ihr Patient, dachte Claudia und strich sich ihren weichen, ockerfarbenen Baumwollrock glatt. Sie hatte gerade ihr Mittagessen beendet und eilte nun zur Haustür, an der geklingelt worden war.
Man hatte im Dorf von Rosewell ziemlich viel über die Ärztin Beatrice Quine geredet, und als sie nun die Haustür öffnete, konnte Claudia durchaus nachvollziehen, warum man sich so gern alle möglichen Geschichten über diese Frau ausdachte.
»Hallo! Ich wusste ja, dass Sie mich eines Tages anrufen würden, aber niemals hätte ich gedacht, dass Sie dann so frisch und erholt aussehen würden«, sagte die Ärztin und bedachte Claudia mit einem langen, warmen Blick. Dann betrat sie selbstbewusst das Haus. »Was kann ich für Sie tun? Erzählen Sie mir doch alles über den gut aussehenden Fremden, über den Sie da gestolpert sind.«
Claudia schloss die Tür und drehte sich um. Doktor Quine stand nur wenige Zentimeter hinter ihr und wartete auf sie. Noch ehe Claudia wusste, wie ihr geschah, wurde sie mit einem lauten Schmatzen auf beide Wangen geküsst, und der Duft eines exotischen Parfüms stieg ihr in die Nase. Nachdem sie ihre Gastgeberin auf diese Weise begrüßt und völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, trat die Ärztin einen Schritt zurück und wippte auf ihren Absätzen vor und zurück, wobei sie Claudia mit verschmitzter Neugier betrachtete.
Das einzig Konventionelle am Erscheinungsbild von Frau
Doktor Beatrice Quine an diesem Nachmittag war ihr altmodischer und recht mitgenommen aussehender Arztkoffer. Es handelte sich um ein ganz gewöhnliches, beruhigend normales Gepäckstück, das in einem seltsamen Kontrast zu seiner Besitzerin stand. Die Ärztin war wirklich außergewöhnlich, und Claudia fühlte sich auf einmal ein wenig eingeschüchtert, auch wenn sie diese Empfindung gar nicht unangenehm fand.
Beatrice Quine war eine Frau von ungewöhnlicher Schönheit. Wahrscheinlich hatte sie in etwa Claudias Alter oder war vielleicht
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