Haus der Sünde
ihm ganz offensichtlich.« Sie beugte sich wieder näher zu Claudia, als wollte sie ihr etwas im Vertrauen sagen, obwohl sie sich allein im Wartezimmer befanden. »Bei Ihnen kann er sich wie ein echter Mann fühlen und nicht wie ein kleiner Junge, der sich in einem Wald von Bürokratie verlaufen hat.«
»Wenn Sie meinen«, sagte Claudia. Sie fühlte sich einerseits erleichtert und andererseits ein wenig verstört. Von Beatrice so umarmt zu werden brachte ihr ein weiteres Thema in den Sinn, das sie in den letzten Tagen immer wieder beschäftigt hatte. Selbst in ihren etwas nüchterneren Berufsklamotten – einem grauen Nadelstreifenanzug, über dem sich der für Claudia inzwischen sehr sinnträchtige weiße Doktorkittel befand – sah die Ärztin ausgesprochen attraktiv und verführerisch aus. Die Tatsache, dass sie eine kleine Brille mit Drahtgestell trug und ihre Haare hoch gesteckt hatte, was ihr ein seriöses Aussehen verleihen sollte, trug zu dieser eindrucksvollen Aura nur noch bei. Für einen kurzen Augenblick glaubte Claudia eine Möglichkeit zu sehen, wie sie ihre Qualen erleichtern konnte, sobald Paul sein Gedächtnis zurückbekommen und sie verlassen hatte.
»Ja, genau das meine ich«, entgegnete Beatrice fröhlich. Ihre Augen funkelten Claudia frech an. »Und das ist meine Ansicht als Ärztin und als Frau.«
Claudia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Doch zum Glück musste sie das auch gar nicht, denn das Telefon im Wartezimmer klingelte. Auf einmal überlief sie ein Schauder der Angst. Sie wusste, dass es sich nur um Pauls Testergebnisse handeln konnte.
»Ja?«, sagte Beatrice, als sie den Hörer abnahm. »Ich verstehe. Gut, wir werden gleich da sein.« Das Geräusch, das entstand, als der Hörer aufgelegt wurde, klang entmutigend endgültig.
Nun konnte Claudia tatsächlich nichts mehr sagen. Eine schreckliche Vorahnung ergriff von ihr Besitz, eine Furcht, die ihr ganzes Gerede über Sex als Therapiemaßnahme frivol erscheinen ließ.
»Kommen Sie«, forderte Beatrice sie sanft auf, nahm sie bei der Hand und zog sie hoch. »David möchte mit uns sprechen.« Sie streckte die Hand aus und strich über Claudias Wange. »Schauen Sie nicht so bedrückt drein. Sie werden sehen, dass es überhaupt keinen Grund dafür gibt.«
Zum Glück hat Beatrice mehr oder weniger Recht gehabt, dachte Claudia, als sie und Paul im Auto saßen und nach Rosewell zurückfuhren. Die Sonne neigte sich inzwischen wieder dem Horizont zu, es herrschte eine friedliche Abendstimmung. All die Tests und Untersuchungen, einschließlich der Gehirntomographie, hatten gezeigt, dass es sich um keine ernsthafte körperliche Verletzung handelte. Das Einzige, worum man sich nun Gedanken machen musste, war die Frage, warum er sich noch immer an nichts erinnern konnte, obwohl es keinen greifbaren Grund dafür gab.
Da Paul augenblicklich schwieg und aus dem Fenster schaute, warf Claudia ihm rasch einen verstohlenen Blick zu.
Wenn du das alles nur spielst, mein Junge, dann bist du ein verdammt überzeugender Darsteller, dachte sie. Der Arzt David Colville hatte Paul ganz offensichtlich jedes Wort geglaubt. Ein Mann mit seiner Erfahrung und seinen Qualifi kationen hätte doch bestimmt erkannt, wenn es sich nur um einen Trick handelte und Paul in Wahrheit ein gemeiner Betrüger wäre. So jemand hatte doch viel mehr Geschick, derartiges herauszufinden als sie selbst. Trotz des unklaren Resultats schien Pauls Problem wirklich zu existieren, und Dr. Colvilles Rezept war das gleiche wie das von Beatrice: sich Zeit lassen. Sie hatten für die kommende Woche einen neuen Termin in
der Ainsley-Klinik vereinbart, wo überlegt werden sollte, ob eine weitere Behandlung notwendig war. Für den Augenblick konnten sie nur abwarten. Paul sollte sich ganz einfach ausruhen und die Dinge gemütlich angehen.
Es wäre interessant, dachte Claudia und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, ob dieser sehr nette und sehr höfliche Doktor Colville geahnt hatte, was während der letzten zwei Tage zwischen Paul und ihr geschehen war. Und wie Pauls ›Ausruhen‹ tatsächlich ausgesehen hatte.
Doch vielleicht waren all diese Aktionen in Wirklichkeit gar nicht gut für ihn, überlegte sie weiter. Wieder warf sie einen Blick auf Paul und bemerkte den höchst nachdenklichen Ausdruck auf seinem blassen Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, nachdem sie einen Kreisverkehr hinter sich gebracht hatten und sich nun ihrem Haus näherten. »Du machst dir
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