Haus der Vampire 02 - Der letzte Kuss-ok
darf sie nicht sehen. Sie nehmen auch keine Botschaften an.« Etwas Dunkles, Verletztes flackerte in diesen unschuldig blickenden Augen auf. »Sie schuf mich und ließ mich dann fallen. Seit Langem hat sie niemand mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Jetzt spricht sie auf einmal mit dir. Warum?«
Fünfzig Jahre. Sie sprach hier mit einem mindestens siebzigjährigen Mann, der eine Haut hatte, die feiner war als ihre. Mit einem umwerfenden, faltenlosen Gesicht und Augen, die...na ja... mehr gesehen hatten, als sie wahrscheinlich je sehen würde. Fünfzig Jahre? »Wie alt bist du?«, platzte sie heraus, denn das brachte sie jetzt wirklich zum Ausflippen.
»Zweiundsiebzig, ich bin der Jüngste«, sagte er.
»In der Stadt?«
»Auf der ganzen Welt.« Er fummelte an dem Zuckerbehälter auf dem Tisch herum. »Die Vampire sterben aus, weißt du? Deshalb sind wir hier in Morganville. Wir wurden da draußen in der Welt abgeschlachtet. Aber selbst hier hat Amelie in den letzten hundertfünfzig Jahren nur zwei neue Vampire gemacht.« Er blickte langsam auf und ihre Blicke trafen sich. Und dieses Mal fühlte sie etwas Ähnliches wie das, was Brandon mit ihr gemacht hatte, diesen Zwang, an Ort und Stelle zu bleiben. »Ich weiß genau, wie sich das für dich anfühlt, weil ich auch schon in dieser Situation war. Ich bin in Morganville geboren, ich wuchs unter Schutz auf. Ich weiß, wie mies es hier für euch ist. Ihr seid Sklaven. Ihr tragt zwar keine Ketten und bekommt keine Brandzeichen, aber dadurch seid ihr nicht weniger versklavt.«
Vor ihren Augen erschien plötzlich das Bild von Shanes Mutter, wie sie tot in der Badewanne lag. »Und wenn wir fliehen, bringt ihr uns um«, flüsterte sie. Sie hätte erwartet, dass er zusammenzucken oder sonst eine Reaktion darauf zeigen würde, aber Sams Gesichtsausdruck veränderte sich überhaupt nicht.
»Manchmal«, sagte er. »Aber Claire, es ist nicht so, dass wir das möchten. Wir versuchen zu überleben, das ist alles. Verstehst du?«
Claire konnte ihn förmlich sehen, wie er dort stand und auf Shanes verblutende Mutter hinuntersah. Er hätte denselben sanften, traurigen Blick in den Augen. Molly Collins wäre für ihn wie ein Haustier, das er einschläfern musste, mehr nicht, und es wäre nicht so wichtig für ihn, als dass er darüber nachts nicht schlafen könnte. Falls Vampire überhaupt schliefen. Was sie zu bezweifeln begann.
Sie stand so schnell auf, dass der Stuhl polternd gegen die Wand stieß. Sam lehnte sich überrascht zurück, als sie ihren Rucksack ergriff. »Oh, verstehe«, sagte Claire mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich kann keinem von euch über den Weg trauen. Du möchtest wissen, wo Amelie ist? Geh doch fragen! Wahrscheinlich hat sie einen guten Grund, nicht mehr mit dir zu sprechen!«
»Claire!«
Sie stieß mit ausgestrecktem Arm die Tür auf und trat in den Tag hinaus. Sie schaute zurück und sah Sam am Rand des Streifens Sonnenlicht im Common Grounds stehen. Er starrte ihr nach und machte dabei ein Gesicht, als hätte er gerade seinen besten – seinen einzigen – Freund verloren.
Verdammt, sie war nicht mit irgendeinem Vampir befreundet. Sie konnte nicht. Und sie würde es auch niemals sein.
6
A uf dem Nachhauseweg beschloss Claire, dass es vielleicht keine so gute Idee war, gegenüber Shane mit Storys über Monica, seinen Dad oder den Vampir Sam herauszuplatzen. Stattdessen bereitete sie das Abendessen zu – Tacos – und wartete, bis Michael wieder unter den Lebenden weilte. Das tat er auch, als die Sonne ganz am Horizont verschwunden war, und er sah so normal und engelhaft wie immer aus.
Sie übermittelte ihm irgendwie die Botschaft, dass sie ihn unter vier Augen sprechen musste, deshalb trocknete Michael in der Küche das Geschirr ab, während sie abwusch. Sie war sich nicht sicher, wie es eigentlich dazu gekommen war – sie war eigentlich gar nicht an der Reihe –, aber das warme Wasser und der weiche Schaum hatten irgendwie eine beruhigende Wirkung.
»Hast du Shane das mit Monica erzählt?«, fragte Michael, als sie ihre Erlebnisse des Tages geschildert hatte. Er schien nicht beunruhigt, aber andererseits brauchte es eine ganze Menge, um Michael aus der Fassung zu bringen. Vielleicht trocknete er die Teller aber auch ein bisschen zu gründlich ab.
»Nein«, sagte sie. »Er wird ihretwegen doch immer gleich ein bisschen... du weißt schon.«
»Ja, allerdings. Okay, du musst vorsichtig sein, aber das weißt du ja, oder? Ich würde
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