Haus des Blutes
müssen.
Alicia stieß einen frustrierten Seufzer aus.
In Wahrheit gab es jedoch wenig, was sie hätte tun können. Im Tank des Accord war nur noch so wenig Sprit gewesen, dass sie es vielleicht noch nicht einmal zurück auf die Asphaltstraße geschafft hätten, geschweige denn den ganzen Weg zum Interstate. Und die Aussicht, nach der stundenlangen beengten Fahrt auch noch im Wagen zu übernachten, schien nur marginal verlockender, als die Nacht auf einem Nagelbett zu verbringen. Sie waren daher Kings Gnade ausgeliefert.
Alicia gefiel das nicht.
Ganz und gar nicht.
Dieses Haus war nur ein paar winzige Schritte davon entfernt, ein Gefängnis zu sein. Sie hielt sich gegen ihren Willen hier auf und konnte nicht von hier weg. Die krasse Realität ihrer Situation ließ sie zusammenzucken. Sie wünschte sich, sie hätte King mit einigen persönlichen Fragen gelöchert, als noch Gelegenheit dazu gewesen war. Sie kreisten alle zu sehr um ihre eigenen Probleme, um großartig über den Mann nachzudenken, aber mit einem Mal erschien es Alicia sehr wichtig, zu wissen, wer er war und was er tat. Warum lebte er beispielsweise in solcher Abgeschiedenheit? Er verfügte ganz offensichtlich über erheblichen Reichtum, jedenfalls der Größe seines Hauses und des durchgehend noblen Mobiliars nach zu urteilen. Aber mit welchen Mitteln hatte er sein Vermögen angehäuft?
Die Abgeschiedenheit beschäftigte sie jedoch weitaus mehr als das Rätsel um seinen Reichtum.
Ein Mensch mit gewissen Neigungen, einer Vorliebe für diverse Tabus, die eine zivilisierte Gesellschaft mied, konnte seinem Verlangen hier, fernab der wachsamen Augen des Gesetzes und der Medien, ohne Schwierigkeiten nachgeben.
Ein verstörender Gedanke nahm in Alicia Gestalt an. Er konnte sogar Menschen umbringen, ohne erwischt zu werden. Man musste sich lediglich ihren eigenen Fall betrachten: Es waren Tage vergangen, seit sie zum letzten Mal mit jemandem von Zuhause Kontakt gehabt hatten. Niemand wusste, wo sie sich aufhielten, und die Lage stellte sich noch prekärer dar, weil sie den Interstate ungeplant verlassen und anschließend eine verwirrende Route über kurvenreiche Nebenstraßen eingeschlagen hatten. Falls ihnen irgendetwas zustieß, wie sollte sie dann jemand finden?
Die Antwort auf diese Frage war offensichtlich.
Es würde sie niemand finden.
Alicia wurde von ihrer entsetzlichen Angst getrieben. Sie kletterte aus dem Bett, streifte sich einen weißen Bademantel über und trat an das Fenster, das auf den Vorgarten blickte. Bodenlaternen erhellten spärlich die Auffahrt und die Veranda. Der burgunderfarben lackierte Accord wirkte im Halbdunkel tiefrot. Hinter ihm parkte ein schwarzer Bentley. Der elegante Luxusschlitten hatte vorhin noch nicht dort gestanden und Alicia betrachtete ihn stirnrunzelnd.
Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich, als ihr auffiel, dass der Nachthimmel sternenklar und der Boden unter dem Fenster trockener war als das Death Valley.
Wo zur Hölle war bitte das furchtbare Regenwetter geblieben, fragte sie sich.
Sie wunderte sich noch immer darüber, als sie ein Geräusch hörte.
Schrill und abrupt, möglicherweise ein Schrei. Der Schrei einer Frau. Alicia wirbelte herum, wandte sich vom Fenster ab und lief zur Tür des Schlafzimmers. Sie legte ein Ohr an die Tür, hielt den Atem an und wartete ab, ob sich das Geräusch noch einmal wiederholte. Aber das Einzige, was sie hörte, war ihr Herz, das in den höchsten Gang geschaltet hatte.
Die gegnerischen Ecken ihres Verstandes begannen miteinander zu streiten.
Das war ein Schrei.
Nein, das bildest du dir nur ein.
Sie hoffte inständig, dass sie es sich wirklich nur eingebildet hatte.
Dann hörte sie das Geräusch erneut.
Alicia wurde von ihrem Instinkt getrieben, ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit. Sie wickelte sich fester in den Bademantel ein, band ihn mit dem Gürtel um ihre Taille, öffnete die Schlafzimmertür und trat hinaus in den spärlich beleuchteten Gang.
In welche Richtung?
Der nächste Schrei, der diesmal lauter und ungleich qualvoller klang, beantwortete ihre Frage. Sie wandte sich nach links und tippelte mit ihren nackten Füßen über den kalten Boden. Das Schreien wurde nun immer lauter und von Schluchzern durchbrochen. Es schien ihr eine wortlose Botschaft zu überbringen. Die Geräusche stammten von einer ihrer Freundinnen. Alicia machte vor einem Zimmer halt, das mehrere Türen entfernt lag, griff nach dem Knauf, drehte daran und …
…
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