Haus des Blutes
Schuld stieg in ihr hoch wie ein zum Platzen gefüllter Ballon und ihr Herz schmerzte unter der Qual des Verlusts. Sie dachte an Dream und die schreckliche Nacht, in der Alicia sie mit zitternder Stimme in die Notaufnahme bestellt hatte. Der Anblick ihrer bleichen, mit Medikamenten vollgepumpten Freundin im Krankenhausbett hatte sie noch monatelang verfolgt. Das Leben war so verdammt ungerecht. Dream war ein liebenswertes, lustiges, wunderschönes Mädchen und die Depression, die sie lähmte, so grausam. Dream bedeutete einer Menge Menschen sehr viel, wurde sogar von ihnen geliebt, aber sie selbst hielt keine allzu großen Stücke auf sich.
Karen hatte das nie verstanden.
Es verunsicherte sie zutiefst.
Jetzt glaubte sie zu wissen, wie es war, Dream zu sein. An einem Ort zu leben, wo Angst und unendliche Qual regierten. In einer dunklen, hallenden, leeren Kammer des Herzens, zu der niemals ein anderer Mensch vordringen konnte. Ihre Freundin lebte ständig in diesem Hort der Einsamkeit. Es erschien ihr gleichermaßen fremdartig und einladend.
Karen konnte nicht einschlafen. Zunächst nicht. Sie wälzte sich auf der Matratze hin und her, rollte sich erst auf der rechten, dann auf der linken Seite des Betts zusammen. Sie drehte sich auf den Bauch und umarmte die Kissen wie einen Geliebten. Aber das war nicht gut. Zu viele Erinnerungen, die ihr das Herz zerrissen. Also legte sie sich wieder auf den Rücken und starrte auf den großen Samthimmel des Bettes. Sie fürchtete, ihr Geist würde nie so weit zur Ruhe kommen, um ihr den vorübergehenden Frieden der Unbekümmertheit zu schenken. Aber schließlich suchte sie der Schlaf auf dieselbe Weise wie immer heim, schlich sich langsam und verstohlen an und ließ ihr Bewusstsein wegdämmern, ohne dass sie es merkte.
Und dann kamen die Träume.
In den Träumen lebte Shane noch. Und auch wieder nicht. Er war eine wandelnde Leiche, ein verwundetes, umhertaumelndes Ding, ein Zombie aus einem Horrorfilm. Sein Mund stand offen und aus seiner Kehle drang ein stetiges, kratzendes Fauchen. Sein schlaffer Schwanz baumelte vor dem offenen Reißverschluss seiner Jeans, und eine seiner toten Hände streichelte ihn, ohne jedoch eine Wirkung zu erzielen. Er verfolgte Karen und sie flüchtete vor ihm. Sie rannte und rannte, stolperte und strauchelte durch eine albtraumhafte Wildnis voller kreischender Vampirfledermäuse und Wölfe mit leuchtend gelben Augen.
Dann veränderte sich die Szenerie.
Sie lag in einem Bett. Es war ihr eigenes Bett, aber in ihrem Traum stand es in Shanes Wohnung. In seinem Schlafzimmer. Sie war nackt. Ein gesichtsloser Mann beugte sich über sie, fickte, grunzte und beschimpfte sie. Und sie fand es großartig. Ganz fantastisch. Sie krallte sich am Hals ihres Phantomliebhabers fest und schrie in orgiastischer Erfüllung auf. Auch Shane befand sich im Zimmer, stand angezogen neben dem Bett und beobachtete die primitive Zusammenkunft mit leerer Miene.
Er hielt eine Waffe in der Hand.
Seine Glock.
Die Pistole hing schlaff in seiner Hand und wies zum Boden. Aber dann bewegte sich sein Arm, er hob die Waffe an und drückte den Lauf gegen seine Schläfe.
Sie sah ihn lachend an. »Tu es. Ich werde kommen wie noch nie, wenn du es tust, Shane.«
Shanes leerer Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Sein Finger drückte den Abzug, es war ein lauter Knall zu hören, und dann spritzte die Hirnmasse ihres Freundes auf die Jalousie des Fensters hinter ihm. Karen schreckte aus dem Schlaf hoch und schnappte nach Luft. Sie blinzelte gegen die Wand aus Dunkelheit an, während sich das letzte Bild aus ihrem Traum unauslöschlich in ihr Gehirn einbrannte.
Sie fühlte sich ganz krank, angewidert von den Bildern, die ihr verräterischer Geist heraufbeschworen hatte. Die Bedeutung des Traums hätte deutlicher kaum sein können. Sie war aufgrund ihrer Untreue für Shanes Tod verantwortlich. Aber es war nur ein Traum gewesen. Zufällige Hirnwellen. Die verkorkste Art und Weise ihres Unterbewusstseins, die Scham und Schande zu verarbeiten, die ihr Bewusstsein ausfüllten. Diese geschmacklose, stark verkürzte mentale Darstellung konnte sie unmöglich ernst nehmen.
Das wusste sie.
Aber warum musste sie dann plötzlich weinen?
Weil ihr einfach alles zu viel wurde. Eine neuerliche Welle der Trauer schwappte über sie hinweg und ertränkte sie in Kummer. Sie war so sehr in ihren Schuldgefühlen gefangen, dass sie zunächst gar nicht bemerkte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.
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