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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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wenigstens so fit war, dass er sie zu dem Treffen mit ihrem Verwandten begleiten konnte. Sie wusste nämlich nicht, ob sie vor lauter Nervosität überhaupt ein Wort herausbringen würde.
    Den Vormittag verbrachte Marco stöhnend auf dem Zimmer, während sie mit dem Bus nach Apia fuhr und auf eigene Faust, mit Reiseführer, Stadtplan und Victorias Tagebuch bewaffnet, die Stadt erkundete. In der Hauptstadt Samoas lebten nicht einmal vierzigtausend Einwohner. Dafür hatte Apia viel Südseeflair zu bieten. Julia fand einige interessante Geschäfte mit einheimischer Kleidung aus herrlich bunten Stoffen, aber auch moderne Läden. Es gab sogar eine Filiale einer bekannten amerikanischen Fastfoodkette. Etliche Firmen trugen deutsche Namen – eine Autovermietung, ein Videoverleih, ein Handwerksbetrieb, Zeugen der Kolonialzeit. Auf Schritt und Tritt dachte sie an Victoria.
Ob ihre Ururgroßmutter diese Straßen auch entlanggegangen war? Hatte es das Kaufhaus zu ihrer Zeit bereits gegeben, oder war es erst nach ihrem Tod eröffnet worden?
Der Gedanke, dass sie buchstäblich in Victorias Fußstapfen ging, elektrisierte sie. Seit sie Victorias Tagebuch zum ersten Mal aufgeschlagen hatte, war sie von dieser Frau fasziniert. Jeden Eintrag hatte sie mittlerweile mehrfach gelesen, sie war ihrer Ururgroßmutter sehr nahegekommen. Doch jetzt in dem Land zu sein, in dem Victoria den größten Teil ihres Lebens verbracht und das sie so geliebt hatte, war unbeschreiblich. Es war, als würden sie einander treffen.
    In der Mitte der Stadt gab es einen kleinen Park. Julia setzte sich auf eine Bank, holte das Tagebuch hervor und blätterte zu den letzten Einträgen vor.
     
    Tanugamanono, 12 . August 1914
     
    Bereits seit Monaten hat es an allen Ecken gebrodelt. Schon lange waren die Zeitungen voll mit Meldungen über einen schwelenden Konflikt in Europa. In allen Blättern, die wir hier in Apia lesen können, war von einem drohenden Krieg die Rede. Man konnte in kein Geschäft mehr gehen, in keinem Restaurant etwas essen, nicht einmal mehr auf der Straße stehen bleiben, ohne daß man in Gespräche über die Bedrohung durch einen Krieg verwickelt worden wäre. Ich habe diesen Gedanken bisher verdrängt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Politiker sich wirklich auf diesen Wahnsinn einlassen. Doch jetzt ist es soweit. Heute habe ich es in der Zeitung gelesen – in unserem samoanischen Blatt ebenso wie in den deutschen, britischen und amerikanischen Zeitungen, die wir hier kaufen können: »Krieg! Deutschland hat Serbien den Krieg erklärt!«
    Ich weiß nicht, was das für uns in der Südsee bedeutet, aber ich habe Angst. Herr, stehe uns bei!
    Tanugamanono, 16 . Dezember 1914
     
    Der Krieg hat uns eingeholt. Bisher habe ich den Gedanken daran erfolgreich verdrängen können. Samoa ist eine kleine Insel mitten in der Südsee. Wir sind Tausende von Seemeilen von den Schlachtfeldern Europas entfernt, wo jeden Tag unzählige Soldaten ihr Leben für unbekannte Ziele, verschwommene Ideale und die Machtbesessenheit der Politiker dieser Welt lassen, die ihre Befehle aus sicherer Distanz, hinter ihren Schreibtischen sitzend, erteilen. Das Gerangel um Macht und Territorien hat nichts mit uns zu tun. So dachte ich. Ich habe mich geirrt.
    Denn der Krieg, der die ganze Welt mit vernichtenderer Wucht als ein Tsunami überrollt hat, hat jetzt auch Samoa gefunden. Die Schiffe der Kriegsmarine kreuzen vor der Bucht von Apia. Heute früh waren die ersten Schüsse auf dem Ozean zu hören. Dieses Donnern der Kanonen, das Aufklatschen der Kugeln im Wasser – Geräusche, die ich bis zum heutigen Tage nicht vergessen konnte, die mich in all den Jahren seit Johns Tod in meinen Alpträumen verfolgt haben. Sie sind plötzlich wieder da. Und auch jetzt, an meinem Schreibtisch im Untersuchungszimmer meiner kleinen Praxis in Tanugamanono zittern mir beim bloßen Gedanken daran die Hände.
     
    Tanugamanono, 15 . März 1915
     
    Die Schiffe der deutschen Marine liegen in Apia vor Anker. Ihretwegen meide ich den Hafen. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, läuft mir ein Angstschauer über den Rücken. Diese grauen Stahlkolosse, die uns angeblich verteidigen und beschützen sollen. Vor wem denn? Vor den Beschützern derer, die sich gegen uns verteidigen müssen, weil sie sich dadurch bedroht fühlen, daß wir uns gegen sie verteidigen? Wenn die Lage nicht so ernst wäre, könnte man über diese irrwitzige Situation lachen. Die Kriegsschiffe sind nicht gebaut

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