Haus des Glücks
Standhaftigkeit seines Vaters, nichts von dessen unerschütterlicher Führungskraft – wenigstens nicht in den eigenen vier Wänden. Im Krankenhaus mochte es ihm vielleicht mühelos gelingen, das Heft fest in der Hand zu halten – aber ohne Klara würden Haushalt, Nachwuchs und seine Wenigkeit schon bald verwahrlosen. Wie konnte er von seinen Kindern erwarten, dass sie ihre Pflichten kannten und sie den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend erfüllten, wo er selbst es doch nicht tat?
Gotthard rieb sich müde die Schläfen. Ein langer, arbeitsreicher Tag lag hinter ihm. Einem Patienten mit einem Tumorleiden ging es sehr schlecht. Der ältere Mann bekam kaum noch Luft, weil sich ständig Flüssigkeit in seinem Brustkorb ansammelte, die abpunktiert werden musste. Gern wäre er in die Klinik gegangen, um nach ihm zu sehen. Und er hätte diese Gelegenheit bestimmt zur Flucht ergriffen, wenn seine Frau jetzt nicht direkt hinter ihm gestanden hätte. Außerdem hatte er es ihr versprochen.
Wieso waren Töchter so viel schwieriger großzuziehen als Söhne? Klara schuldigte dafür die Meldungen in den Zeitungen an, über Studentinnen, Doktorinnen und Frauen, die das Wahlrecht forderten und an den Universitäten studieren wollten. Sie sagte immer, es verwirre die jungen Mädchen und setze ihnen Flausen in den Kopf, anstatt dass sie ein anständiges Leben führen wollten – was natürlich bedeutete zu heiraten, Kinder zu gebären und sich um den Haushalt zu kümmern. Er konnte ihr nicht widersprechen, er kannte sich mit den Gedanken des weiblichen Geschlechts nicht aus. Möglicherweise brachten diese Meldungen tatsächlich Unruhe. Insgeheim glaubte er jedoch, dass es ihr Blick war, der jeden Vorsatz zur Strenge, und somit jeglichen Versuch der Erziehung, unmöglich machte. Dieser Blick aus großen, blauen Augen, der ihn als Vater stets daran erinnerte, wie sie als kleine Mädchen auf seinem Schoß gesessen und Hoppereiter gespielt hatten. Diesem Blick hatte er nichts entgegenzusetzen.
Es tat gut, Klaras Gegenwart zu spüren. Ihre Hand lag beruhigend auf seiner Schulter. Er fuhr sich über die Stirn. Seine Hände zitterten wie vor der Prüfung zum Staatsexamen, dabei stand ihm lediglich ein Gespräch mit Victoria bevor.
Sie war kein strenger, unnachgiebiger Professor, sondern seine eigene Tochter, Herrgottnochmal!
Entschlossen streckte er die Hand nach der kleinen Messingglocke aus und läutete.
Hilde erschien mit einem gestärkten Häubchen auf dem Kopf, an ihrer großen Schürze hing ein gestreiftes Küchentuch. Bestimmt bereitete sie gerade das Abendessen vor. »Gnädige Frau, gnädiger Herr?«, fragte sie, knickste höflich und schien dabei inständig zu hoffen, dass sie keinen langwierigen Auftrag für sie hatten, damit das Gemüse auf dem Herd nicht zerkochte.
»Schicken Sie Victoria bitte zu uns.«
»Sehr wohl, die Herrschaften.«
Gotthard hörte Hildes rasche Schritte auf der Treppe, kurz darauf lief sie wieder hinunter. Er schloss die Augen, zählte seine Herzschläge und drückte Klaras Hand. Natürlich wurde erwartet, dass er das Gespräch begann. Er war das Familienoberhaupt. Aber wie er anfangen und welche Worte er wählen sollte, sagte ihm niemand.
Die Tür öffnete sich, Victoria betrat die Bibliothek. »Sie haben nach mir gerufen, Vater? Mutter?« Sie wirkte überrascht, sie beide hier zu sehen. Ihre geröteten Wangen verloren an Farbe, ihre Stirn runzelte sich, als grübelte sie darüber nach, was sie angestellt haben könnte.
Gotthard nahm seine Brille ab und putzte sie sorgfältig. Er gewann Zeit.
Und was nützt es dir?,
schimpfte er mit sich.
Nichts. Du schiebst das Notwendige vor dir her. Feigling! Sie ist dein Kind!
Sein Blick streifte kurz die Uhr seines Vaters. Er räusperte sich und setzte die Brille auf. »Mutter und ich sind der Meinung, dass es an der Zeit ist, über deine Zukunft zu sprechen«, sagte er und sah seine Tochter freundlich an. Die Farbe kehrte auf ihre Wangen zurück, ihr Gesicht begann zu strahlen. Hatte sie etwa schon Pläne?
»Ich habe dir doch von Tante Luises Brief erzählt«, setzte Klara das Gespräch fort. »Was hältst du von ihrem Vorschlag, zu ihr und Onkel Heinrich nach Reinbek zu gehen?«
Victorias Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Das kann nicht Ihr Ernst sein, Mutter!«, stieß sie hervor.
Klara warf Gotthard einen hilfesuchenden Blick zu. »Warum denn nicht, Victoria? Besser kannst du es kaum haben. Sie haben ein schönes Mansardenzimmer für
Weitere Kostenlose Bücher