Haus des Glücks
Stoff in gefällige Falten, prüfte, begutachtete, zupfte zurecht und erteilte Johanna Befehle, die diese willig befolgte. Victoria aber stand stocksteif da und wagte nicht, in den Spiegel zu sehen.
Bis heute Morgen, bis zu dieser Stunde war sie überzeugt gewesen, das Richtige zu tun. Freudig hatte sie diesen Tag erwartet. Doch ihre Zuversicht war verflogen. Sie hatte Angst. Schmerzhaft spürte sie die Nadeln, mit denen Mutter ihr den weißen Schleier an ihrem Haar feststeckte, und jeder Stich schien sie zu mahnen:
Weißt du, was du tust? Hast du dich für den richtigen Weg entschieden? Wenn du durch diese Tür gehst, gibt es kein Zurück mehr.
Am liebsten wäre sie fortgelaufen. Weit fort, irgendwohin, wo niemand jemals eine Entscheidung von ihr verlangen würde.
»Fertig«, sagte Mutter schließlich und betrachtete mit kritischem Blick ihr Werk.
»Du bist wunderschön«, flüsterte Johanna. »Bist du glücklich?«
Ausgerechnet die eine Frage, die sie nicht hätte stellen dürfen! Victoria wollte antworten, doch ihre Lippen begannen zu zittern, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wo war nur das Loch, in das sie sich verkriechen, oder die Decke, unter der sie sich verstecken konnte?
»Ich …«, sie brach hilflos ab und brachte nicht einmal mehr ein Nicken oder ein Kopfschütteln zustande, das ihren wahren Gefühlen derzeit eher entsprochen hätte. Stattdessen schlug sie die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
»Johanna, geh nach draußen«, sagte Mutter. »Lass uns für einen Moment allein.«
Die jüngere Schwester verließ gehorsam das Zimmer. Die Ratlosigkeit und Verwirrung in ihrem Blick ließ Victoria aufschluchzen.
Ihre Mutter führte sie zum Bett, drückte sie sanft nieder und setzte sich auf die Bettkante neben sie.
»Weine ruhig, wenn dir danach zumute ist«, sagte sie und legte ihren Arm um sie.
»Wie kommt das bloß? Eigentlich sollte ich doch fröhlich sein«, schluchzte Victoria und strich mit der Hand über die weiche Bettdecke, unter der sie fortan nicht mehr liegen würde.
Nie mehr!
»Ich schäme mich so!«
»Das ist ganz normal«, sagte Mutter und drückte sie fest an sich. »Mit dem heutigen Tag wird sich schließlich einiges in deinem Leben ändern. Du hast Angst vor dem Neuen. Und du hast Angst, nicht die richtige Wahl getroffen zu haben.«
»Und wenn dem so ist?« Victoria schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. »Wenn ich mir die Entscheidung zu leicht gemacht habe und sie schon bald bereuen werde?«
»Victoria, mein Kind, ich kenne dich«, Mutter umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, so dass sie sie ansehen musste. »Du hast nie, in deinem ganzen Leben, leichtfertig einen wichtigen Entschluss gefasst. Dass du dich jetzt fürchtest, ist normal. Das ist Tante Luise ebenso ergangen wie jeder meiner Freundinnen und auch mir selbst. Glaube mir, ich würde mir mehr Sorgen machen, wenn du in diesem Augenblick keine Zweifel hättest.«
»Aber ich …«
Mutter schüttelte den Kopf und legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Liebst du John?«
»Ja«, antwortete Victoria, ohne zu zögern. »Ich liebe ihn. Aber ich habe schon so oft geglaubt, das Richtige zu tun, und habe mich doch anders entschieden: erst das Lehrerinnenseminar und der Plan, Medizin zu studieren. Dann die Krankenpflegeausbildung. Letztlich wollte ich sogar Nonne werden! Alles habe ich angefangen und nichts davon beendet. Und ich möchte gar nicht wissen, wie viele Menschen ich damit enttäuscht habe. Und was Mutter Oberin jetzt von mir denkt.«
»Schwester Innozentia ist eine kluge Frau. Ich bin sicher, sie kannte deine Entscheidung schon lange, bevor du selbst sie in Erwägung zogst.« Mutter lächelte ihr aufmunternd zu. »Was hat sie zu dir gesagt, als du ihr deinen Entschluss mitgeteilt hast?«
»Sie sagte, dass ich meine Wahl frei treffen muss. Und ich solle immer daran denken, dass Gott für jede Tür, die er hinter mir schließt, eine andere öffnet, bis ich an dem Platz angekommen bin, den Er für mich vorgesehen hat.«
»Sie ist eine kluge Frau. Du kannst die Zukunft nicht deuten, das steht uns Menschen nicht zu. Aber wenn du auf Gott vertraust und dich von ihm leiten lässt, wird dir nichts zum Schaden gereichen.«
»Ich weiß, Mutter. Aber wenn ich nicht standhaft genug bin? Wenn meine Liebe nicht für ein ganzes Leben reicht, oder ich John nicht so lieben kann, wie er es verdient? Oder wenn ich mich als schlechte Ehefrau und Mutter erweise? Du weißt, wie wenig ich mir aus
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