Haus des Glücks
Pyramiden gesehen und mich im Roten Meer gewundert, wie Moses mit Gottes Hilfe das Volk der Israeliten hier hatte hindurchführen können. Im Hafen von Mogadischu, wo die » Blue Horizon« frische Vorräte lud, habe ich mich an dem bunten Treiben der Gewürz- und Tonwarenhändler mit ihren langen weißen Gewändern und schwarzen Gesichtern kaum sattsehen können. Doch vor einer Stunde ist der schmale Streifen der afrikanischen Küste unwiederbringlich entschwunden. Und in diesem Moment ist mir bewußt geworden, daß ich nicht einfach in einen Zug steigen oder das nächste Schiff nehmen und nach Hause fahren kann. Mit Afrika haben wir die letzte Verbindung zu allem, was wir kennen und Heimat nennen, verlassen. Als sei der schwarze Kontinent nur ein Anhängsel von Europa und die Reise bisher nichts als ein Ausflug zu Tante Luise nach Reinbek. Je weiter die » Blue Horizon« jedoch die Küste hinter sich läßt und auf den Indischen Ozean hinaussegelt, um so größer wird mein Heimweh. Ich kann kaum noch atmen. Und die stickige, düstere Kabine, in der ich mit einem Buch auf den Knien auf meiner Koje sitze und versuche, im jämmerlichen Schein der Öllampe zu schreiben, trägt nicht dazu bei, mein Befinden zu bessern.
Fest steht doch folgendes: Ich habe Hamburg, Vater, Mutter, Johanna, Paul und allen Menschen, die ich kenne und liebe, für lange Zeit den Rücken gekehrt. Vielleicht sogar für immer. Ich habe meine Geburtsstadt mit ihren gepflasterten Straßen, den Droschken, Bäckereien, Kolonialwarenläden, den Tageszeitungen, Krankenhäusern und allen anderen Annehmlichkeiten des modernen Lebens zurückgelassen, um an einem Ort zu wohnen, wo Kannibalen hausen und gräßliche Naturkatastrophen regelmäßig die Bewohner heimsuchen. Ich habe das in dem Buch über die Südsee gelesen, das ich bei eben jenem Händler erstanden habe, der uns vor der Abreise unsere Bücher abgekauft hat. Im Mittelmeer hat mich diese Lektüre noch wohlig erschauern lassen. Mittlerweile sind daraus Angstschauder geworden. Wenn John nicht an meiner Seite wäre, würde ich gewiß verrückt werden.
Und doch schleicht sich immer wieder ein häßlicher Gedanke in mein Hirn: Wenn er nicht wäre, säße ich nicht auf diesem elenden Schiff. Ich wäre zu Hause, in Hamburg, im Marienkrankenhaus oder an Vaters Seite in der Praxis. Was ist nur mit mir los? Vor nicht einmal einem Jahr habe ich vor Gott und den Menschen geschworen, zu John zu halten, in guten wie in schlechten Tagen. Sieht so etwa meine Treue aus?
Die Öllampe rußt, daß es kaum noch auszuhalten ist. Ich werde nach oben gehen. Die frische Seeluft wird mir hoffentlich guttun und die unangenehmen Gedanken vertreiben. Ich will das nicht! Ich weiß doch, daß John mich braucht, daß es ihm noch viel schlechter geht als mir, weil er sich die Schuld an dem Dilemma gibt. Ich muß stark sein, ich muß durchhalten. Vielleicht wird das alles nicht so schlimm.
13
Herbst 1891
V ictoria stand an der Reling und sah auf das Meer hinaus. Die Wellen kräuselten sich im Licht der untergehenden Sonne, die Segel blähten sich, Schaum spritzte am Bug der
Blue Horizon
empor. Der Wind fuhr sanft in ihr hochgestecktes Haar und kühlte die Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
»Victoria! Endlich. Ich habe überall nach dir gesucht.«
Hastig wischte sie sich die Tränen vom Gesicht. John machte sich ohnehin schon genug Vorwürfe.
»Störe ich dich?«, fragte er und legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Nein.«
»Kein Land mehr zu sehen«, sagte er leise. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Das Leben, das wir kannten, haben wir endgültig hinter uns gelassen.«
Victoria presste die Lippen aufeinander. Erneut traten ihr die Tränen in die Augen, aber sie nahm sich zusammen. Für ihn.
»Ich wünschte, ich hätte dir das ersparen können, mein Liebling.«
»Mein Platz ist an deiner Seite. Ganz gleich, in welchem Teil der Welt.«
»Aber du könntest jetzt zu Hause in Hamburg sein. Vermutlich würdest du gerade mit deinen Eltern zu Abend essen, studieren. Oder deinem Vater als Krankenschwester in seiner Praxis zur Hand gehen. Stattdessen hast du mich geheiratet und steuerst mit mir einer ungewissen Zukunft in einem unbekannten wilden und gefährlichen Land entgegen.« Auch er hatte das Buch gelesen. »Ich wette, du hast deine Entscheidung längst bereut.«
Sie schmiegte sich an ihn und schämte sich dafür, dass er aussprach, was sie noch vor wenigen Augenblicken gedacht und in ihr Tagebuch
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