Haus des Glücks
dir genommen wie alle anderen. Wenn eines der Lebensmittel verdorben gewesen wäre, hätten doch mehr Leute krank werden müssen, oder?«
»Du hast recht«, sie zuckte mit den Schultern, während sie überlegte, was sich seit Indien geändert hatte. Sie machte doch alles genauso wie vorher. »Ich weiß auch nicht, was …« Plötzlich brach sie ab. Ihr fiel ein, dass sie ihre Binden schon lange nicht mehr gewaschen hatte, zuletzt in Hamburg. Das war mittlerweile acht Wochen her.
»Was ist?«, fragte John. Die Sorge stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Nichts«, sagte sie schnell und nahm einen weiteren Schluck. Sie wollte nicht darüber sprechen, nicht jetzt. Er sollte sich nicht noch mehr Sorgen machen, als er es ohnehin schon tat. Nachts, wenn er in der Koje über ihr lag und glaubte, dass sie schlief, hörte sie ihn oft weinen. Sie musste erst sicher sein, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Dann würde sie es ihm sagen. Und hoffen, dass auch er sich über diese Nachricht aufrichtig freuen konnte.
Sydney, 30 . September 1891
Es ist soweit. Morgen früh wird die » Lübeck« ablegen und uns endgültig nach Samoa bringen. Die Kisten mit unseren Habseligkeiten wurden bereits gestern verladen: die Wäschetruhe, die Bücherkiste und jene Kiste, in der zwischen Holzwolle Geschirr, Kristallgläser und Besteck liegen, von dem ich mich nicht trennen konnte. Es sind Hochzeitsgeschenke. Wahrscheinlich werde ich nie wieder Gäste zu einer Teegesellschaft oder einem Dinner laden. Aber wenigstens werde ich die feinen Tassen, Teller und Gläser in die Hand nehmen und betrachten können. Sie werden mich an unsere Hochzeit erinnern, an die Wohnung an der Alster mit der Veranda, an Vorhänge aus schwerem Samt, knarrende Dielen und den Geruch von Tabak und französischem Branntwein im Herrenzimmer. Wie wird unser Leben in der Südsee aussehen? Einerseits kann ich es kaum erwarten, das herauszufinden. Andererseits schnürt es mir vor Angst die Kehle zu. Und wie soll ich das Kind bekommen?
Daß ich schwanger bin, daran habe ich keinen Zweifel mehr. Noch ist es kaum zu sehen, aber ich merke an jedem Morgen, daß mein Mieder täglich etwas enger wird. Und wenn ich in der Nacht wach und ausgestreckt auf dem Rücken im Bett liege und meine Hand auf den Bauch lege, glaube ich, Bewegungen zu spüren, zart wie Schmetterlingsflügel, die von innen meine Bauchdecke kitzeln. Die Übelkeit ist schon seit einer Weile ebenso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war. Statt dessen habe ich jetzt ständig Hunger. John ist deshalb noch nicht mißtrauisch. Er freut sich über meinen wiedergewonnenen Appetit.
Er selbst ist in den letzten Wochen immer schweigsamer geworden. Sein Gesicht ist blaß und schmal. Ich weiß um die Schuldgefühle, die auf ihm lasten, und die schweren Vorwürfe, die er gegen sich selbst erhebt, ohne ihm helfen zu können. Welche Gewissensbisse würden ihn erst plagen, wenn er wüßte, daß er Vater wird? Deshalb habe ich beschlossen, ihm noch nichts von dem Kind zu erzählen. Ich werde ihn erst einweihen, wenn wir auf Samoa angekommen sind und uns dort eingerichtet haben. Vielleicht wird er die Nachricht dann etwas ruhiger und gelassener aufnehmen können. Wir wollen uns doch gemeinsam auf Seymour junior freuen!
Vielleicht ist es albern, aber noch genieße ich das Gefühl, allein von dem neuen Leben zu wissen, das gerade in mir heranwächst. Es ist mein Geheimnis! Ich spüre eine Verbundenheit zu dem Kleinen, wie ich sie noch nie zuvor bei einem Menschen empfunden habe, nicht einmal zu John. Ich spreche sogar mit dem ungeborenen Kind, singe leise vor mich hin, und stelle mir vor, daß mein Gesang dem kleinen Wesen gefällt. Ich liebe mein Kind schon jetzt so sehr! Wenn ich bei meinen Streifzügen durch die Stadt in einem Schaufenster Kinderkleidung oder Spielsachen sehe, überlege ich immer: Wird es ein Mädchen oder ein Junge? Werde ich dem Kind Puppen oder Bauklötze schenken, Kleidchen oder Hosen kaufen? Doch dann fällt mir ein, daß es unter Palmen aufwachsen und fernab jeglicher Zivilisation mit Muscheln und Steinen spielen wird, und ich muß weinen.
John ist zur Zeit beim Hafenmeister. Er muß vor der Abreise noch einige wichtige Formalitäten erledigen, und ich werde mich auch gleich auf den Weg in die Stadt machen. Meine Besorgungen habe ich bereits in den vergangenen drei Tagen erledigt: zwei Fläschchen Tinte, Papier, ein dickes Heft, das ich als Tagebuch benutzen werde, wenn
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