Haus des Glücks
endlich den Weg zur Hauptstraße fand, war sie schweißgebadet.
Sie hatte die Pension noch nicht erreicht, als John sie einholte. Schon als sie sein Gesicht sah, wusste sie, dass etwas geschehen war.
»Victoria!«, rief er aus, ergriff ihren Arm und hielt sie fest. »Wie gut, dass ich dich treffe. Ich muss dir erzählen, was passiert ist!«
Im ersten Augenblick dachte sie, dass die
Lübeck
im Hafen gesunken und sie folglich in Sydney gestrandet seien, dann fiel ihr aber ein, dass sie den Reichspostdampfer noch vor einer knappen halben Stunde mit eigenen Augen gesehen hatte. Waren ihre Schiffspapiere etwa ungültig? Hatte man John bestohlen? Oder hatte ihr Gläubiger es sich doch anders überlegt und John die Polizei auf den Hals gehetzt? Sie rechnete mit dem Schlimmsten. »Was ist los?«, fragte sie und versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Aber es war unmöglich. Er wirkte aufgewühlt, seine Haare waren zerzaust, seine Wangen gerötet. Aber sie hätte nicht sagen können, ob vor Aufregung, vor Glück oder vor Zorn. Also übte sie sich in Geduld und wartete ab, was er ihr erzählen würde.
»Du wirst es mir nicht glauben«, sagte er und fuhr sich durch das Haar. »Du wirst es nicht glauben!«
»Was denn John?« Allmählich war sie der Verzweiflung nahe. »Was ist los? Ist dir etwas begegnet?«
Er sah sie an, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben sehen, und runzelte die Stirn. »Ob mir etwas begegnet ist?«, wiederholte er in einem seltsamen Ton, der ihr Angst machte. Als sei er mit seinen Gedanken weit fort. »Und ob mir etwas begegnet ist. Eine Geistererscheinung. Mitten hier in Sydney.«
Victoria wusste, dass man in der feinen englischen Gesellschaft, aber auch in gewissen Kreisen in Deutschland gern spiritistische Sitzungen abhielt. Sie selbst glaubte nicht an Geister oder übernatürliche Erscheinungen. Doch jetzt, wo sie ihren Mann so sah, bekam sie Angst. Sie waren hier am Ende der Welt. Möglich, dass hier andere Gesetzmäßigkeiten galten als daheim in Europa. »So sprich doch endlich!«, drängte sie ihn. Sie hielt die Ungewissheit nicht mehr aus.
Dann fing er plötzlich an zu lachen. Dieses Lachen jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Du wirst mich für verrückt halten«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich habe die
Helene Claasen
gesehen. Und damit nicht genug. In einer der Hafenkneipen saß Hein Gericke und trank munter ein Bier.«
»Wer ist Hein Gericke?«, fragte sie verständnislos.
»Der Kapitän der
Helene Claasen.
«
Victorias Mund wurde trocken. Wogen die Schuldgefühle, die John sich wegen des Todes der Besatzung seiner Schiffe machte, so schwer, dass er darüber den Verstand verlor? Was sollte sie tun? Die Chance, auf Samoa einen Arzt zu finden, der sich mit solchen Zuständen auskannte, war gering. Und ihre eigenen medizinischen Kenntnisse reichten bei weitem nicht aus, um John zu behandeln. »Aber das ist nicht möglich!«, sagte sie sanft und legte ihm behutsam eine Hand auf den Arm. »Das Schiff ist vor einigen Monaten vor Indien gesunken, und der Kapitän ist mit seiner Mannschaft ertrunken. Weißt du noch? Erinnerst du dich an das Telegramm?«
Er runzelte unwillig die Stirn. »Was redest du da? Natürlich erinnere ich mich.«
»Dann weißt du, dass es nicht sein kann. Du musst dich geirrt haben.«
»Ich habe mich nicht getäuscht!«, beharrte er. »Ich habe das Schiff mit eignen Augen gesehen. Eine Viermastbark, grün und weiß gestrichen, unterhalb der Wasserkante rot. Den Namen haben sie in
Helen O’Bascer
geändert.«
»Da siehst du es. Es ist eine andere Bark. Und der Mann, den du in der Hafenkneipe gesehen hast, hat lediglich Ähnlichkeit mit Hein Gericke. Du hast dich geirrt, John.«
»Und deshalb verschwindet der Kerl fast unter dem Tisch, als er mich sieht?«, rief er heftig und riss sich los. »Behandle mich nicht wie einen Irren. Ich weiß, was ich gesehen habe. Das war Hein Gericke. Da bin ich mir sicher. Ebenso sicher, wie diese
Helen O’Bascer
in Wahrheit die
Helene Claasen
ist. Glaube mir, ich erkenne mein Schiff, wenn ich es sehe.«
Victoria wurde nervös. Die Passanten begannen neugierig zu werden. Sie drehten sich nach ihnen um, und manche tuschelten miteinander. Vielleicht verstand der eine oder andere auch Deutsch. Sie mussten von der Straße weg.
»Hier ist nicht der Ort, darüber zu sprechen«, sagte sie und nahm erneut seinen Arm. »Lass uns lieber auf unserem Zimmer weiterreden.«
Sie zog John hastig den kurzen Weg zu ihrer
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