Haus des Glücks
Unterkunft. In der Pension grüßte sie die Wirtin mit einem Nicken und schob ihn vor sich her die schmale Treppe hinauf. Sie schloss sorgfältig die Tür und nahm auf dem einzigen Stuhl Platz, während John im Zimmer auf und ab wanderte. Seine rastlosen Bewegungen erinnerten sie an
Carl Hagenbecks Tierhandlung
in Hamburg. Sie stellten dort oft exotische Tiere aus, die Matrosen und Tierfänger aus fernen Ländern mitgebracht hatten. Einmal hatte sie dort einen Jaguar gesehen, eine große geschmeidige Katze mit gelben Augen und gepunktetem Fell, die knurrend in ihrem Käfig auf und ab gelaufen war. Natürlich war sie heilfroh über die dicken eisernen Gitterstäbe gewesen, die sie von den scharfen Zähnen des Raubtieres getrennt hatten. Dennoch hatte ihr das Tier leidgetan – seiner gewohnten Umgebung entrissen, eingesperrt in einem engen Zwinger, Tausende von Seemeilen von der Heimat entfernt, umgeben von fremden Gerüchen und Geräuschen. Sie hatte die Angst des Jaguars fast riechen können.
»Also gut«, sagte Victoria und ließ John nicht aus den Augen. »Du glaubst also, dass diese
Helen O’Bascer
in Wirklichkeit die
Helene Claasen
ist. Was macht dich so sicher?«
»Der Name ist stümperhaft übermalt. Man erkennt zum Teil noch die ursprünglichen Buchstaben, wenn man genau hinschaut. Das gilt übrigens auch für die Schiffspapiere. Ich habe sie mir unter einem Vorwand vom Hafenmeister zeigen lassen, als ich dort war. Überall war der Name des Schiffes unleserlich gemacht, verschmiert oder überschrieben worden. Der Hafenmeister sagte, der Kapitän habe sich mit einem Missgeschick herausgeredet – einer umgefallenen Flasche oder so etwas. Lächerlich. Außerdem würde eine unter britischer Flagge segelnde Bark niemals einen irischen Namen tragen. Ich sage dir, die haben mich nach Strich und Faden betrogen. Und wenn die
Helene Claasen
noch über die Weltmeere schippert, sind die anderen beiden Frachtsegler vielleicht auch nicht gesunken.«
Victoria rieb sich die Stirn. Ihre Gedanken überschlugen sich. Johns Zustand machte ihr Sorgen. War er dabei, den Verstand zu verlieren? Und wenn er recht hatte? »Aber warum, John? Weshalb sollte der Kapitän dich betrogen haben? Du hast die Besatzung gut bezahlt und sie immer fair behandelt.«
Er zuckte mit den Schultern. »Gründe gibt es viele: Habgier. Vielleicht haben sie die Ladung selbst veräußert. Oder sie sind bestochen worden. Wenn die drei Schiffe in Hamburg angekommen wären, hätten wir viel Geld verdient und unseren Marktanteil erheblich ausbauen können. Es gibt genügend Konkurrenten im Teehandel, die damit gewiss nicht einverstanden gewesen wären. Es könnte auch jemand gewesen sein, der einen persönlichen Groll gegen mich hegte. Oder es war mein Gläubiger selbst.«
Sie schwiegen. John stellte seine Wanderung ein und sah aus dem Fenster, beide Hände in den Hosentaschen. Die Vorstellung war verrückt. Aber wenn nicht …
»Und was jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er und lehnte die Stirn an die Scheibe. »Beweisen kann ich es nicht. Der übermalte Name, die verschmierten Schiffspapiere sind nichts weiter als Indizien. Folglich steht mein Wort gegen das der ganzen Mannschaft. Mit Ehrlichkeit kann ich bei solchen Kerlen kaum rechnen. Und selbst wenn ich bereit wäre, mich auf dasselbe Niveau zu begeben und sie zu bestechen, hätte ich nicht genug Geld, um mir ihre Aussage zu erkaufen. Die Ladung ist so oder so verloren. An unserer finanziellen Situation ändert sich nichts, und somit auch nichts an den Forderungen meines Gläubigers. Es bleibt alles beim Alten. Abgesehen von dem wunderbaren Gefühl, der Gehörnte zu sein, über den sich alle lustig machen.«
»Ich nicht«, sagte Victoria und trat hinter ihn. »Es ist nicht falsch, den Menschen zu vertrauen. Nur weil ein Apfel faul ist, sollte man nicht die ganze Kiste wegwerfen.«
Er schwieg eine Weile. »Du glaubst mir nicht.«
Victoria schluckte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich kann es nicht beurteilen, ich habe dieses Schiff nicht gesehen. Aber ich weiß, dass du dir schreckliche Vorwürfe machst, dass du leidest.«
»Wie auch nicht. Wegen meiner Dummheit und Leichtgläubigkeit habe ich mein Vermögen verloren. Seit Monaten plagen mich in der Nacht die Bilder von Wasserleichen. Mein Gläubiger jagt mich um den halben Erdball, und ich zerre meine junge Frau aus ihrer gewohnten Umgebung und schleppe sie in die wilde Südsee.« Er schüttelte den Kopf.
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