Haus des Todes
passiert ist – ihre Sehnerven haben Reflexe gezeigt, und ihre Augen sind dem Licht gefolgt. Ich habe während der Stunde, die ich da war, den Test fünfmal wiederholt, ohne dass sie noch mal darauf reagiert hätte.«
»Aber die Tests …«
»In drei Wochen machen wir die Tests. Dann wissen wir mehr.«
»Es besteht also die Chance, dass …«
»Theo, es gibt immer eine Chance. Wunder geschehen
jeden Tag. Aber es sind eben – Wunder. Ich werde Ihnen alle Informationen zu ihrem Termin zusenden.«
Nachdem er aufgelegt hat, gehe ich nach draußen, und mir ist klar, dass die nächsten drei Wochen langsamer vergehen werden als die vier Monate Knast.
Zum Haus der Chancellors fährt man mit dem Wagen zehn Minuten, die Straßen sind fast leer. Ein paar Leute gehen Händchen haltend spazieren, sie sind in Jacken gehüllt, einige führen einen oder zwei Hunde an der Leine. Bei den sinkenden Temperaturen ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Jacken dicker und die Spaziergänge kürzer werden. Es gefällt mir, wie Hunde jeden Gegenstand anstarren, als würden sie ihn gerade zum ersten Mal sehen, ihre Begeisterung für einen Baum, einen Laternenpfahl, einen Stock, der geworfen wird.
»Wir haben unsere Tochter zum letzten Mal vor zwei Jahren gesehen«, sagt Harvey Chancellor, während er meine Marke begutachtet. »Und ich wage es kaum zu fragen, was Ariel diesmal ausgefressen hat.«
»Nichts«, erkläre ich. Es wird langsam kalt hier auf der Türschwelle, trotzdem bittet er mich nicht ins Haus, einen Bungalow mit einem Vogelhäuschen im Vorgarten. Darunter hocken drei Katzen, aber keine Vögel. »Sie können uns vielleicht helfen, eine Person zu finden, nach der wir suchen.«
»Wen? Caleb Cole? Alle suchen nach ihm, und wo Sie schon mal hier sind, kann ich Ihnen auch sagen, dass wir ihn kannten. Mehr aber auch nicht. Wir können Ihnen da nicht weiterhelfen.«
»Darf ich reinkommen? Vielleicht können Sie uns etwas erzählen, das uns bei der Suche nach Ariel oder Caleb weiterhilft.«
Er nickt langsam. Und sein dichtes graues Haar federt auf und ab; andere Männer in seinem Alter beneiden ihn bestimmt um seinen Schopf. »Okay.«
Im Haus ist es warm, es ist modern beleuchtet und in den Farben einer Musterwohnung eingerichtet. Als ich im Wohnzimmer Platz nehme, würde ich am liebsten die Füße auf den Tisch legen und ein Nickerchen machen, nur ganz kurz, höchstens sechs, sieben Stunden. Mr. Chancellor setzt sich mir gegenüber, und seine Frau betritt das Zimmer und hockt sich neben ihn. Beide sind Ende fünfzig, und die Kleidung macht sie zehn Jahre älter. Mrs. Chancellor trägt einen Morgenmantel, der vom Hals abwärts jeden Quadratzentimeter ihrer Haut bedeckt und aussieht, als könnte man damit wunderbar seinen Wagen putzen. Sie hat braunes Haar, das von ein paar grauen Strähnen durchzogen ist, und an der Seite steckt eine Haarklammer, die so riesig ist, dass sie sich den Hals damit verletzen könnte. Sie bietet mir einen Kaffee an, und ich nehme dankend an. Ich habe es fast einen halben Tag geschafft, auf Kaffee zu verzichten. Ich schätze, das ist eine reife Leistung. An den Wänden hängen Bilder von Ariel, allerdings hat sie darauf keinerlei Ähnlichkeit mit der Frau, die ich heute Morgen gesehen habe. Das hier sind Bilder von einer anderen Ariel, von einer Tochter aus einem anderen Leben. Im Wohnzimmer ist es heiß, eine Klimaanlage bläst warme Luft herein. Im Fernseher
läuft ein Krimi. Die Kriminaltechniker darin sind äußerst vielseitig, im einen Moment entdecken sie unter dem Mikroskop mehrere Haare, und im nächsten treten sie schon mit dem Fuß eine Tür ein. Der Ton ist ausgeschaltet, darum müssen sie ihren Verdächtigen bis auf Weiteres stumm verhaften.
»Ariel geht auf den Strich«, sagt Harvey, »schon seit einer Weile. Wir haben versucht, sie davon abzuhalten und ihr Hilfe zu besorgen, sicher. Ich meine, welche Eltern würden das nicht? Ich erzähle das, weil es uns wichtig ist, dass Sie das wissen. Damit Sie nicht denken, wir hätten unsere Tochter im Stich gelassen. Doch je mehr wir uns bemühten, desto schlimmer wurde es. Sie ist oft von zu Hause weggelaufen. Nicht direkt nach dem Vorfall mit Jessica, aber etwa ein Jahr später. Innerhalb weniger Monate ist sie ein anderer Mensch geworden. Jessica auf diese Weise verloren zu haben, hat sie verändert. Doch erst als sie dreizehn war, hat sie angefangen, sich die Schuld daran zu geben. Ich denke, damals hat sie überhaupt erst
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