Haus des Todes
erklärt, es ginge um seine Rechte.«
Bei den letzten Worten zucke ich zusammen. »Das hat er geschrieben?«
»Und noch schlimmere Sachen, das können Sie mir glauben«, sagt er und nickt dabei ein wenig, und das reicht, um die Wörter schneller aus ihm heraussprudeln zu lassen. »Ständig änderte sich der Tonfall der Briefe. In einem stand, dass er Ariel keinerlei Schuld gebe, und im nächsten bezeichnete er sie als Schlampe und gab ihr die
Verantwortung für den Tod seiner Tochter. Wenn sie wirklich ihre Freundin gewesen wäre, wäre sie nicht abgehauen und hätte sie nicht dort zurückgelassen. Aber das Schlimmste war – also, das Schlimmste war, dass wir sie trotzdem gelesen haben. Ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, warum.«
»Ich nehme an, dass Ariel die Briefe nie zu Gesicht bekommen hat?«
»Nein«, sagt er.
Mrs. Chancellor bringt die Briefe und gibt sie mir. Es ist ein dicker Packen, zusammengehalten von einem Gummiband, die Ecken und Ränder sind vergilbt und geknickt. Der Kaffee ist immer noch zu heiß zum Trinken. Ich ziehe den obersten Brief heraus. Coles Handschrift ist kaum zu entziffern.
»Wegen seiner gebrochenen Finger«, sagt Chancellor und deutet mit dem Kopf auf die Briefe.
Als ich Caleb auf dem Friedhof die Hand geschüttelt habe, nachdem ich ihm Starthilfe gegeben hatte, ist er zusammengezuckt. Und am folgenden Tag waren diese Hände stark genug, um sich um meinen Hals zu legen.
»Bevor das alles passiert ist, wie gut kannten Sie ihn da?«
Er zuckt leicht mit den Schultern. Zurückhaltende Gesten sind offensichtlich typisch für Harvey Chancellor. Ein dezentes Nicken, ein leichtes Achselzucken. Ich hoffe für seine Frau, dass er das in anderen Bereichen ausgleicht.
»Wir kannten ihn und seine Frau. Weil unsere Töchter beste Freundinnen waren. Sie wissen ja, wenn Kinder zusammen
aufwachsen, lernt man automatisch ihre Eltern kennen. Caleb war ein feiner Kerl. Ich mochte ihn. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber wir haben uns hin und wieder auf Geburtstagsfeiern und Schulveranstaltungen gesehen, und mehr oder weniger jedes Wochenende lieferte einer von uns sein Kind zum Spielen im Haus des anderen ab. Er liebte seine Familie, keine Frage. Sie schmiedeten Pläne für die Zukunft – seine Frau war schwanger, das weiß ich noch. Seine Frau, mein Gott, was für eine reizende Person.«
»Wirklich reizend«, sagt Mrs. Chancellor, sie sitzt neben Harvey auf der Armlehne des Sofas. »Und sie sah umwerfend aus. Sie war eine echte Schönheit. Sie hat über die anderen Eltern und Schüler nie ein böses Wort verloren, obwohl sie bestimmt reichlich Anlass dazu gehabt hätte. Manche Kinder sind richtige Arschlöcher, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise«, sagt sie, »aber so ist es doch. Haben Sie je ein Ehepaar gesehen, das so glücklich ist und sich so innig liebt, dass Sie das Gefühl hatten, die beiden hätten sich noch nie gestritten? Eine Ehe bedeutet immer Arbeit, das wissen Sie bestimmt«, sagt sie, während sie den Ehering an meiner Hand betrachtet, ohne die geringste Ahnung, wie viel Arbeit meine Ehe tatsächlich bedeutet, »aber auf sie schien das nicht zuzutreffen. Das ist selten, und wenn man den Leuten davon erzählt, sagen sie, man irre sich, so eine Ehe gebe es nicht, aber ich schwöre, bei den beiden war es so. Der Caleb, den wir damals kannten, ist zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter gestorben. Der Mann, der diese
Briefe geschrieben hat, ist nicht der Mann, den wir kannten. Er ist ein Fremder, ein Monster, und wir beten für ihn, Detective, wir beide beten für ihn.«
»Die Leute, die er getötet hat«, sagt Harvey, »warum sie? Wer sind diese Leute?«
Ich zähle ihm die Namen auf.
»Ich kenne sie nicht«, sagt er.
»Sollten wir denn?«, fragt seine Frau.
»Einer davon war Whitbys Anwalt«, sage ich. »Ein anderer der Sprecher der Jury. Der dritte war der Leumundszeuge der Verteidigung. Die vierte Person, das nehmen wir zumindest an, kannte Ihre Tochter von der Arbeit. Und Dr. Stanton ist derjenige, der meinte, James Whitby sei heilbar.«
Harvey wird plötzlich ganz blass.
»Die armen Mädchen«, sagt Mrs. Chancellor. »Sie müssen zu Tode erschrocken sein. In den Nachrichten hieß es, dass eines von ihnen unverletzt aufgefunden wurde, stimmt das?«
»Ja«, sage ich zu ihr und sehe dabei Harvey an. Er wirkt körperlich krank, als würde er von innen heraus zerfressen werden.
Als er meinen Blick bemerkt, schluckt er leicht und sagt: »Ich weiß
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