Haus des Todes
begriffen, was eigentlich passiert war. Sie hasste James Whitby, und sie hasste sich selbst.« Er will sich zu seiner Frau umdrehen, dann lächelt er, offensichtlich ist ihm eingefallen, dass sie im Moment nicht da ist. »Der Kaffee kommt gleich«, sagt er.
Ich nicke wortlos, denn ich möchte, dass er weitererzählt. Einer der Kriminaltechniker auf dem Bildschirm hat gerade jemanden erschossen. So ist das im Fernsehen – meist gehen die bösen Jungs am Schluss drauf. Ich frage mich, ob es für Caleb auch so enden wird.
»Wir haben sie dazu überredet, eine Therapie zu machen, aber die hat nicht geholfen. Man hat ihr Antidepressiva verschrieben, und sie hat sie alle auf einmal geschluckt. Wir haben es gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft. Die Ärzte meinten, ein paar Minuten später, und sie wäre tot gewesen. Es sei ein Wunder, dass sie überlebt habe.«
Ich denke erneut über das Wort Wunder nach, und ein Teil von mir fürchtet, dass die Zahl der Wunder in dieser Welt begrenzt ist und dass Ariel Chancellor das eine aufgebraucht hat, das eigentlich für meine Frau bestimmt war. Es ist eine alberne, egoistische Vorstellung, aber genau das geht mir gerade durch den Kopf.
»Nach diesem Vorfall hat sie sich nachts oft aus dem Haus geschlichen und kam dann betrunken wieder zurück. Sie machte mit den Jungs in der Schule herum. Mit fünfzehn wurde sie dann von der Highschool geworfen, nachdem man sie dabei erwischt hatte, wie sie in einem der Labors für ein paar Dollar mit zwei Schülern gleichzeitig Sex hatte. Wir haben sie auf eine andere Schule geschickt, doch zwei Wochen später passierte dort dasselbe. In immer kürzeren Abständen ist sie von zu Hause abgehauen, und jedes Mal wenn wir sie fanden, war sie noch zugedröhnter als beim Mal davor. Nach ihrem siebzehnten Geburtstag haben wir sie dann kaum noch gesehen.«
Er erzählt mir das alles mit einer Offenheit, die nur jemandem möglich ist, der die Geschichte schon so oft erzählt hat, dass er sich dabei nicht mehr schämt; nicht, dass sie sich dafür schämen mussten, was ihre Tochter getan
hat – sie ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen –, aber vielleicht dafür, dass sie ihr nicht helfen konnten. Er klingt jedoch weder frustriert noch verärgert – er akzeptiert einfach, dass sich die Dinge eben so entwickelt haben.
»Er hat ihr geschrieben«, sagt er. »Caleb. Aus dem Gefängnis.«
»Was denn?«
»Wie sehr er sie liebt und wie sehr er sie hasst. Über das Leben im Knast, über seine Tochter, über den Sohn, den er nie hatte, über seine Frau.«
»Haben Sie die Briefe noch?«
Er nickt. »Wir wollten sie eigentlich wegwerfen, aber wir dachten, dass sie eines Tages noch nützlich sein könnten.«
Seine Frau kommt ins Zimmer zurück, sie trägt ein Tablett mit drei Tassen: »Ich hole sie, okay?«
»Ich glaube, sie sind im Wandschrank«, sagt er, »auf dem obersten Brett hinter den Puzzlespielen.«
»Sie sind im Gästezimmer«, sagt sie, »in einer Schachtel unter dem Bett.« Sie stellt das Tablett ab und geht wieder raus.
Harvey verdreht leicht die Augen und zuckt die Achseln. »Darum ist es in meinem Alter so wichtig, dass man verheiratet ist«, sagt er.
Ich nicke. Wenn ich so alt bin wie er, werde ich auch verheiratet sein. Und bis zum heutigen Tag dachte ich, Bridget wäre niemals wieder in der Lage, mir zu sagen, wohin ich mein Lieblings-T-Shirt verlegt habe. Aber vielleicht kommt ja alles ganz anders.
»Ich sehe, Sie verstehen, was ich meine«, sagt er und lacht leise.
»Bitte?«
»Sie haben gelächelt«, sagt er.
»Erzählen Sie mir von den Briefen.«
»Die ersten waren noch okay«, sagt er. »Caleb schreibt darin, wie leid es ihm tut, was Ariel durchmachen musste, und wie dankbar er sei, dass nicht beide Mädchen gestorben sind. Aber dann wurden sie immer wütender. Ich habe mich gewundert, dass er sie überhaupt verschicken durfte. Ich habe mich deswegen beschwert, doch die Gefängnisverwaltung meinte, sie könne nichts dagegen tun, weil er die Briefe nach draußen geschmuggelt habe und sie deshalb nicht überprüft wurden. Das würde ständig passieren, die Häftlinge würden die Briefe anderen Häftlingen zustecken, die Besuch von ihrer Familie bekommen. Man erklärte uns, es wäre eine Verletzung seiner Rechte, ihm das Schreiben zu verbieten. Unfassbar, was? Ein Mann schreibt Ariel, dass er sich wünscht, sie wäre anstelle seiner Tochter vergewaltigt und ermordet worden, und die Gefängnisleitung
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