Haus Ohne Hüter
Gesichtern: »Leo, Leo, Leo Ȭ Ei, Ei, Ei.« »Bist du noch nicht fertig?«
»Nein«, sagte Brielach, »meine Mutter muß neue Zähne haben, und ich muß
ausrechnen, wieviel wir jeden Monat einsparen können. Aber nimm die fünfhundert Mark, um die Leo uns betrogen hat, und du hast die Zähne für meine Mutter schon halb bezahlt.«
Martin wünschte, Frau Borussiak würde wieder singen oder die
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Glocken würden wieder läuten, und er schloß die Augen und dachte an den
Film, an die Träume im Kino: Leo, durch grüne Finsternis mit einem Mühlstein um den Hals auf den Boden des Meeres sinkend Ȭ und Wilmas Gestammel fiel in seine Träume. Leo Ȭ Zucker Ȭ Papa Ȭ Ei Ȭ Leo. Und als Frau Borussiak oben anfing zu singen: »Beiderseits des Waldesweges, da blühen Vergißmeinnicht« Ȭ als sie anfing, als ihre Stimme ihn wieder traf, schlug er die Augen auf und fragte Brielach: »Warum heiraten unsere Mütter nicht wieder?«
Brielach schien diese Frage für wichtig genug zu halten, um seine Rechnerei zu unterbrechen. Er warf den Bleistift beiseite mit der Miene eines Mannes, der sich bewußt ist, eine Pause verdient zu haben, und indem er die Ellenbogen aufstützte, sagte er: »Weißt du es wirklich nicht?« »Nein.«
»Wegen der Rente, Mensch. Wenn meine Mutter heiratet, bekommt sie
keine Rente mehr.« »Dann kriegt Frau Borussiak keine Rente?« »Nein, aber ihr Mann verdient ja auch gut...« »Trotzdem...«, er dachte nach und lächelte Wilma zerstreut zu, die im Lesebuch den heiligen Joseph entdeckt hatte und ihn strahlend zum Papa erklärte. »Trotzdem, sie würde also die Rente kriegen, wenn Herr Borussiak nicht ihr Mann wäre und sie noch Hörn hieße?«
»Natürlich Ȭ aber sie würde es nicht tun, weil sie fromm ist. Weil es
unmoralisch ist.«
»Deine Mutter ist nicht fromm?«
»Nein. Deine denn?«
»Ich weiß nicht, manchmal ja. Sie kann fromm sein.«
»Und Onkel Albert?«
»Fromm? Ich glaube, ja.«
Brielach schob die Ellenbogen ganz nach vorne und legte den Kopf an die zurückgebeugten, zu Fäusten geballten Hände. »Nun«, sagte er, »deine Mutter Ȭ da ist es mit der Rente natürlich anders. Bei ihr ist es nicht wegen des Geldes.«
»Meinst du?«
»Nein.«
»Meinst du, glaubst du...«, er zögerte, sprach es dann aber sehr schnell aus,
Brielach wurde rot und schwieg. Leo hatte von Martins Mutter gesprochen und von ihr gesagt, daß sie mit Männern das Wort tat, aber er wollte es Martin nicht sagen, weil er wußte, daß es für Martin schwerer war als für ihn, zu wissen, daß seine Mutter sich mit Männern vereinigte. »Nein«, sagte er, »ich glaube es nicht«, und er wußte, daß er log, denn er glaubte es wohl Ȭ er sprach schnell weiter: »Es hat aber nicht nur mit der Rente zu tun, auch mit der Lohnsteuer. Davon reden sie auch immer, auch der Schaffner, der mit der Frau Hundag oft zu Leo kommt. Aber ich weiß noch etwas.«
»Was?«
»Daß es den Frauen wegen der Rente nicht so wichtig wäre wie den Männern. Die Frauen sagen, wir würden schon zurechtkommen, andere Frauen kommen auch zurecht, aber die Männer sagen: nein. Leo ist wütend, wenn meine Mutter vom Heiraten spricht.«
»Meine Mutter ist wütend, wenn Albert vom Heiraten spricht.«
»So?« Brielach horchte auf, und es traf ihn. Nein, er wollte nicht, daß Albert Martins Mutter heiratete. »So«, sagte er, »weißt du das bestimmt?«
»Ja«, sagte Martin, »ich hab ȇ s gehört. Meine Mutter will nicht mehr heiraten.«
»Das ist komisch«, sagte Brielach, »das ist sehr komisch. Alle Frauen, die ich kenne, würden gern heiraten.«
»Deine Mutter auch?«
»Ich glaube schon, manchmal sagt sie, sie sei es leid. Es ist ja auch unmoralisch.« Martin tat es leid, daß er dazu nicken mußte: Unmoralisch war es, und für einen Augenblick wünschte er, seine Mutter möge nachweisbar unmoralisch sein, damit er wenigstens in diesem Punkte mit Brielach gleich sei, und er sagte, um Brielach zu trösten: »Vielleicht ist es meine Mutter auch, was meinst du?« Brielach wußte, daß sie es war, aber er wollte nicht zugeben, daß er es wußte. Leo als Quelle schien ihm zu unzuverlässig, und er sagte nur vage: »Vielleicht ja, aber ich glaub ȇ s nicht.«
»Es ist schlimm, wenn man etwas nicht genau weiß«, sagte Martin. »Meine
Großmutter sagt oft, wenn meine Mutter spät nach Hause kommt: >Wo treibst du dich immer rum?< Ist das unmoralisch?«
»Nein«, sagte Brielach, und er war froh, daß er hier entschieden
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nein
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