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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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sagen konnte, »auch Frau Borussiak sagt zu ihrer Tochter: >Wo treibst du
    dich immer rum?< Sie meint die Straße, den Spielplatz, das Kino. Ich glaube nicht, daß Herumtreiben unmoralisch ist.«
    »Es hört sich aber so an, und sie flüstern dann.«
    »Es kann, glaube ich, unmoralisch sein.« Martin nahm Wilma wieder auf den Schoß. Sie steckte den Daumen in den Mund und lehnte ihren Kopf an seine Brust. »Die Frage ist«, sagte er, »ob meine Mutter sich mit andern Männern Ȭ vereinigt. Es wäre unmoralisch, weil sie nicht verheiratet ist Ȭ alles geht gegen das sechste Gebot.«
    Brielach wich aus. »Ja«, sagte er, »wenn Männer und Frauen sich Ȭ vereinigen
    und nicht verheiratet sind, sündigen sie, und das ist unmoralisch.«
    Brielach war erleichtert. Der Riß im Eis hatte sich vertieft, und das Wasser darunter war nicht so tief, wie er gefürchtet hatte. Immerhin war es seltsam, zu hören, daß Martins Mutter nicht geheiratet werden wollte. Das widersprach seinen Erfahrungen. Frau Hundag wollte von dem Schaffner geheiratet werden, der Leos Freund war, seine Mutter sprach manchmal vorsichtig mit Leo darüber, und er wußte, daß Behrendts Mutter oft weinte, weil sie nicht mit Behrendts Onkel verheiratet war. Auch die Frau im Milchgeschäft hatte ein Kind bekommen und war nicht verheiratet, und Leo hatte gesagt: »Darauf wird Hugo nicht hereinfallen! Heiraten wird er sie nicht.«
    Am Rande war die Eisschicht gespalten, und die Tiefe des Wassers war nicht
    beunruhigend: unmoralisch gab es oberhalb und unterhalb der Eisschicht. Es gab drei Welten für ihn: die Schule, alles, was in der Schule und im Religionsunterricht gesagt wurde, widersprach der Leo Ȭ Welt, in der er lebte, und Martins Welt war wieder eine andere Welt: Eisschrank Ȭ Welt, Welt, in der Frauen nicht geheiratet werden wollten, Welt, in der Geld keine Rolle spielte. Drei Welten Ȭ aber er wollte nur in einer, in seiner leben, und er sagte laut zu Martin, der die schlafende Wilma auf dem Schoß hielt: »Das Wort, das meine Mutter zum Bäcker sagte, finde ich gar nicht so schlimm.« Er fand es wohl schlimm, aber er wollte eine Entscheidung herbeiführen. »Es steht ja auch unten im Flur an der Wand, hast du es noch nie gelesen?« Martin hatte es gelesen, und er hatte es gelesen noch schlimmer gefunden als gehört, aber
    er über die blutigen Kalbsviertel hinwegsah, die die Metzger aus blutigen Autos in den Laden trugen. So wie er über Blut im Urin hinwegsah, wenn es ihm ganz nah vor die Nase gehalten wurde, so wie er nicht genau hingesehen hatte, als er Grebhake und Wolters im Gebüsch überraschte: dunkelrote Gesichter, offene Hosenlätze und der bittere Geruch frischen Grüns. Er drückte die schlafende Wilma an seine Brust und beantwortete die Frage von Brielach nicht. Das schlafende Kind war warm und schwer. »Na, siehst du«, sagte Brielach, »bei uns stehen solche Wörter an der Wand, bei uns werden solche Wörter gesprochen, und bei euch eben nicht.« Aber die Eisdecke hielt, weil er log; denn er fand das Wort wohl schlimm, hatte aber gesagt, er fände es nicht schlimm. Der heilige Joseph fiel ihm ein. Weißgesichtiger, sanfter Mann:
    »Nehmet ihn euch zum Vorbild.« Weißgesichtiger, sanfter Mann, wo triffst
    du dich mit Onkel Leo? Und wo werde ich mich mit dir treffen? Der heilige Joseph stand ganz unten, sehr tief unter der Eisdecke: für Augenblicke belebte Gestalt, die sich langsam nach oben durchruderte und vergebens durch die Eisdecke zu stoßen versuchte. Aber würde er herauszuholen sein, wenn das Eis wirklich ein Loch bekam? Würde er nicht zusammenfallen oder zurücksinken, endgültig auf den Grund des Wassers sinken, hilflos winkend und machtlos gegen Leo? Sein Schutzpatron, der heilige Heinrich, hatte auch dieses sanfte, doch strenge Gesicht aus Stein gehauen, fotografiert, vom Kap Ȭ lan ihm geschenkt: »Nimm dir ein Beispiel daran.«
    »Leo«, sagte er hart zu Martin hin, »Leo schreibt das Wort an die Wand. Ich weiß es jetzt.« Knallrote, nach Rasierwasser riechende Fresse, die auf Melodien von Kirchenliedern merkwürdige Parodien sang, die er nicht verstand, die aber bestimmt gemein waren, denn die Mutter wurde immer böse und sagte: »Laß das doch...«
    Martin antwortete nicht. Er fand alles hoffnungslos. Auch Brielach schwieg. Er wollte seine Teilnahme an dem geplanten Ausflug absagen. Wozu diese Eisspielereien: immer das merkwürdige Gefühl, daß es nicht gut gehen würde. Onkel Will und Alberts Mutter, und wenn sie

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