Haus Ohne Hüter
Glocken mit einem heftigen Schlag aussetzten. Langsames, sich hell hineinschleichendes lindes Grün von den letzten Schwingungen. Wilma hielt immer noch die Augen geschlossen und machte »dong«.
Martin nahm das zweite Butterbrot, das er oben auf die Bettkante gelegt hatte, bröckelte ein Stück ab, steckte es Wilma in den Mund, und sie schlug die Augen auf und lachte und sagte nicht mehr »dong«.
Martin zog mit der freien Hand den Karton heraus, der unter dem Bett stand. Der Karton war voller Spielzeug, er trug rostbraun aufgedruckt in großen Buchstaben die Anschrift: »Sun Ȭ
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licht«. Leere Schachteln, Klötze, zerstörte Autos enthielt der Karton.
Wilma kletterte von seinem Schoß, nahm mit wichtiger Miene jeden einzelnen Gegenstand heraus und wandte, ihn ernst anblickend, die einzige Vokabel für Gegenstände, die sie kannte, darauf an: »Zucker«. Aber sie sagte es leise, die Stirn runzelnd und mit einem Blick auf Heinrich, der immer noch rechnend am Tisch saß.
Martin wünschte, Frau Borussiak würde wieder singen, und er blickte
schräg zu Brielach hinüber, der mit sehr wichtiger Miene dort saß, und plötzlich tat ihm Brielach leid, und er fragte: »Mußt du wieder den Plan machen?«
»Mensch«, antwortete Brielach sofort, und sein Gesicht entspannte sich,
»Mensch, ich kann dir sagen, es kotzt mich an. Zwanzig Mark soll ich im Monat heraussparen, weil meine Mutter neue Zähne bekommt.«
»Oh, Zähne sind teuer.«
»Teuer?« Brielach lachte. »Teuer? Teuer ist gar kein Wort, Zähne sind unerschwinglich. Aber weißt du, was ich herausbekommen habe?«
»Was denn?«
»Daß Onkel Leo seit zwei Jahren viel zuwenig Geld abgibt. Das Mittagessen kostet im Durchschnitt nicht, wie wir damals festgesetzt haben, dreißig Pfennige, sondern wir kommen fast auf vierzig Pfennige. Und das Frühstück, das ist gemein, wir haben die Margarine mit zwanzig Gramm angesetzt, aber er frißt mindestens vierzig und nimmt noch Butterbrote mit, das Kraut ist gar nicht gerechnet und jedes Ei mit zwanzig Pfennigen. Weißt du, wo man für zwanzig Pfennige ein Ei bekommt, weißt du ȇ s?« Brielachs Stimme wurde heiser vor Empörung. »Nein«, sagte Martin, »ich weiß nicht, wo es so billige Eier gibt.«
»Ich nämlich auch nicht. Wenn ich ȇ s wüßte, würde ich hinrennen, damit wir
auch mal Eier fressen können.« Wilma schien von Eiern nichts zu halten, sie hielt im Aufzählen ihrer Gegenstände inne und sagte, das Gesicht verziehend:
»Leo, Leo«, sagte sie, »Ei« und Ȭ dann strahlte sie plötzlich, weil Ei eine
Bereicherung ihres Vokabulars bedeutete. »Wozu braucht er überhaupt morgens ein Ei?« »Alle Väter, auch alle Onkels bekommen morgens ein Ei«, sagte
Martin unsicher, aber er verbesserte sich schnell und sagte: »Fast alle«, denn er wußte nicht genau, ob es stimmte. Das Frühstücksei war ihm immer als Signum der Väter und Onkel erschienen, aber jetzt fiel ihm ein, daß Behrendts Onkel kein Ei bekam.
»Ich sehe aber nicht ein, warum«, sagte Brielach. Er machte mit dem Bleistift einen heftigen Strich aufs Papier, als striche er damit Onkel Leo das Ei. Sein Gesicht war blaß vor Wut, als er weitersprach: »Nun rechne dir aus, um wieviel er uns betrogen hat: sieben Pfennige an Margarine mehr, wenn das überhaupt langt , denn manchmal schmiert er sich abends noch ein Brot, zehn Pfennige fürs Mittagessen, und ich rechne einen Pfennig fürs Kraut, jetzt nimm die drei Pfennige fürs Ei, ich rechne mindestens drei Pfennige mehr, das sind zwanzig Pfennige mal tausend Tage, die er hier schon bei uns ißt: zweihundert Mark, mein Lieber. Nun weiter. Das Brot wird nicht gerechnet, weil wir ȇ s geschenkt kriegen, seit zwei Jahren. Aber ich frage dich: Was wir geschenkt bekommen, bekommt er das auch geschenkt? Wie?«
»Nein«, sagte Martin erschlagen, und das Butterbrot schmeckte ihm plötzlich nicht mehr.
»Na, also rechne bitte bei diesem Freßsack ruhig deine vierzig Pfennige fürs Brot, rechne ruhig noch fünf Pfennige für Strom hinzu, um den er uns betrügt, so kommst du gut auf fünf Pfennige in tausend Tagen, das sind fünfzig Mark, und vierzig Pfennige für siebenhundertdreißig Tage Ȭ weißt du, daß das noch einmal dreihundert Mark sind?« »Nein«, sagte Martin. Brielach schwieg wieder und wandte sich seinem Blatt zu. »Ei«, sagte Wilma triumphierend, »Leo, Ei.« Sie hatte im Lesebuch finstere Männer entdeckt: Bergleute waren es, die unter Tage arbeiteten, Männer mit dunklen und ernsten
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