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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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lächelte Wilma zu, die eine andere Seite des Rechenbuchs aufgeschlagen hatte und triumphierend auf das Schaf zeigte, das genau 64,5 Kilo wog, vom Metzger für soundso viel pro Kilo Lebendgewicht erworben wurde, mit soundso viel Aufschlag dann für soundso viel per Pfund verkauft wurde, und auch er war auf den Trick hereingefallen, hatte nicht bedacht, daß ein Kilo zwei
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    Pfund hatte, und hatte gedankenlos zum Schluß 64,5 Pfund gerechnet, worauf dem Lehrer der Triumph blieb, zu erklären, daß sämtliche Metzger der Stadt dem Bankrott geweiht seien. Aber die Metzger waren nicht dem Bankrott geweiht, sie gediehen. Wilma freute sich über das Schaf, sie schrie: »Zucker« und wandte ihre Aufmerksamkeit der nächsten Seite zu, wo das alberne Frauenzimmer einen Motorroller auf Raten kaufte. Brielach saß am Tisch und rechnete mit gerunzelter Stirn. Martin sah es jetzt: Zahlen bedeckten das weiße Papier, durchgestrichene Kolonnen, unterstrichene Ergebnisse. Er ging zum Küchenschrank, schob die Kristallschale mit den künstlichen Früchten beiseite: Apfelsinen, Bananen aus Glas und die Weintraube, die er immer wieder bewunderte, so täuschend ähnlich sah sie aus. Er wußte, wo alles stand. Die Blechtrommel mit dem Brot, die Butterdose mit Margarine, Messer, die silbrige Blechbüchse mit Apfelkraut. Er schnitt eine sehr dicke Scheibe Brot ab, bestrich sie mit Margarine, schmierte Apfelkraut darüber und biß sofort in das fertige Brot. Er seufzte vor Freude. Niemand zu Hause, Bolda und Glum ausgenommen, begriff, daß er Margarine so gern aß. Die Großmutter schrie vor Entsetzen, wenn er es tat, und malte mit dunkler Stimme tausend Krankheiten aus, finstere innere Krankheiten, deren schlimmste Tebezee hieß. »Das endet mit Tebezee.« Aber er fand Margarine herrlich, blieb jetzt am Küchenschrank stehen und schmierte sich gleich noch ein Brot, um nicht ein zweites Mal aufstehen zu müssen. Wilma empfing ihn lächelnd, als er sich wieder zu ihr setzte. Oben sang Frau Borussiak:
    »Dunkelrote Rosen«. Ihre volle, so dunkle Stimme war wie eine Quelle, die Blut verströmte. Er hatte die deutliche Vorstellung, daß Rosen, dunkelrote Rosen, zu Blut gepreßt, aus ihrem Munde strömten, und er nahm sich vor, es zu malen: blonde Frau Borussiak, aus deren Mund dunkelrotes Rosenblut strömte.
    Wilma war auf der letzten Seite des Rechenbuches angelangt, wo es wieder um
    Tonnen ging: Schiffe und Eisenbahnwagen waren abgebildet, Lastautos und Lagerhallen. Wilma betupfte Schiffer, Eisenbahner, Lastwagenfahrer und Sackträger und ordnete sie in Papas und Leos: Es waren mehr Leos als Papas, denn fast alle Männer hatte finstere Gesichter. Leo Ȭ Leo – Papa Ȭ Leo Ȭ Leo Ȭ Leo Ȭ Papa Ȭ aus einer Fabrikhalle strömende Arbeiter wurden generell als
    weil er keine Bilder enthielt Ȭ nur ein paar Vignetten: Weintrauben und
    Girlanden wurden als Zucker bezeichnet, und sie legte den Katechismus beiseite. Das Lesebuch war eine Fundgrube, die offenbar mehr Papas als Leos enthielt: Sankt Nikolaus und Sankt Martin, Ringelreihe spielende Kinder, alle waren Papas. Martin nahm Wilma auf den Schoß, brach Stücke aus dem But Ȭ terbrot heraus und fütterte sie. Ihr blasses, dickes Gesicht strahlte, und sie sagte bei jedem Bissen feierlich: »Zucker«, bis sie plötzlich albern wurde, zehn Ȭ , zwanzigmal hintereinander »Zucker« schrie.
    »Verdammt«, rief Brielach, »spiel etwas Ruhiges mit ihr.« Wilma erschrak, sie runzelte die Stirn und legte feierlich den Finger auf den Mund.
    Frau Borussiak sang nicht mehr, in der Tischlerei war es ganz still. Plötzlich läuteten die Glocken, und Wilma schloß die Augen und versuchte den Klang der Glocken nachzuahmen, indem sie »dong Ȭ dong Ȭ dong« rief. Unwillkürlich schloß auch er die Augen, hielt im Kauen inne, und der Klang der Glocken übertrug sich hinter den geschlossenen Lidern ins Optische: Die Glocken läuteten ein Muster in die Luft, Ringe, die sich erweiterten, die dann auseinanderfielen, Quadrate und Schraffierungen, wie sie der Gärtner mit der Harke auf die Wege zeichnete. Merkwürdige Vielecke, hell ins dunkle hineingeschlagen, wie aus Blech herausgestanzte Muster: Blumen, und das helle Dong Ȭ dong aus Wilmas Mund löcherte weiße Punkte in die endlose graue Fläche, Spuren eines kleinen Hämmerchens. Farben mischten sich hinein: Rot wie dunkelrotes Blut der Rosen Ȭ ringförmig geöffnete, ganz rote Münder, gelbe Wellenlinien und ein riesiger, ganz grüner Fleck, als die

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