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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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verließ den Eissalon. Sehr plötzlich befiel sie oft die Sehnsucht nach dem Kind, das sie für Tage ganz vergaß: Es war gut, seine Stimme zu hören, seine Wange zu fühlen, zu wissen, daß es da war, seine leichte Hand zu spüren und den leichten Atem zu beobachten, sich seines Daseins zu vergewissern.
    Das Taxi fuhr sie schnell durch dunkle Straßen. Sie betrachtete verstohlen von der Seite das Gesicht des Fahrers, ein ruhiges, ernstes Gesicht, das vom Schatten der Schirmmütze halb verdeckt war.
36
    »Haben Sie eine Frau?« fragte sie plötzlich, und der dunkle Kopf nickte, wandte sich dann für einen Augenblick ihr zu, und sie sah ein überraschtes Lächeln auf dem ernsten Gesicht. »Und Kinder?« fragte sie.
    »Ja«, sagte der Mann, und sie beneidete ihn. Sie weinte plötzlich, feucht
    wurde das von Lichtern durchblitzte Bild der Glasscheibe.
    »Mein Gott«, sagte der Chauffeur, »warum weinen Sie?« »Ich denke an meinen Mann« , sagte sie, »der vor zehn Jahren gefallen ist.«
    Der Chauffeur wandte sich überrascht ihr zu, drehte schnell sein Gesicht wieder nach vorne, löste aber die rechte Hand vom Steuerrad und legte sie für einen Augenblick leicht auf ihren Arm. Er sagte nichts, und sie war froh darüber und sagte: »Gleich müssen Sie rechts einbiegen und dann die ganze Hodlerstraße durch bis zum Ende.« Feucht war das Bild draußen vor der Scheibe, und der Taxameter tickte und warf die Zahlen mit einem leichten Knack hoch: Groschen um Groschen stapelte die unermüdliche Gelduhr nach oben. Sie wischte die Tränen aus ihre Gesicht und sah im Licht des Scheinwerfers hinten schon die Kirche, während sie daran dachte, daß ihre Kavaliere immer weniger Ähnlichkeit mit Rai hatten: Büffel mit gutgeschnittenen Gesichtern, die Wörter wie »Wirtschaft« mit vollem Ernst aussprachen und ohne Ironie sogar Sachen sagten wie »Volk« und »Aufbau« und »Zukunft«; Sektflaschenhälse umfassende Männerhände mit und ohne Zukunft, die hart waren und stümperisch, mit Gepäck belastete Ernstnehmer, gegen die jeder kleine Hochstapler fast ein Dichter war, bevor er im Gefängnis kapitulierte.
    Leise berührte der Taxichauffeur ihren Arm, und mit einem letzten Ruck
    sprang der Taxameter noch um einen Groschen höher. Sie gab dem Mann Geld, viel Geld, und er lächelte ihr zu, sprang von außen um das Auto herum, um ihr den Schlag zu öffnen, aber sie war schon draußen und sah, wie dunkel das Haus war: Nicht einmal bei Glum war Licht, und es fehlte selbst der gelbe Lichtstrahl, der immer aus Mutters Zimmer in den Garten fiel. Den Zettel an der Haustür konnte sie erst entziffern, als sie aufgeschlossen und in der Diele Licht gemacht hatte: »Wir sind alle ins Kino gegangen.« Alle war viermal unterstrichen. Sie blieb im Dunkeln in der Diele unter Rais Porträt sitzen. Es
    war vor zwanzig Jahren gemalt worden, zeigte ihn als lachenden Jüngling, der
    ein Gedicht auf eine Nudelpackung schrieb: Deutlich hatte Absalom Billig auf die Nudelpackung gemalt: »Bamberger Eiernudeln. «Rai lachte auf diesem Bild, er sah so leicht aus, wie er gewesen war, und das Gedicht auf der Nudelpackung existierte noch in Pater Willibrords Archiv: verblichen war das Blau, verblichen die eierfarbenen Antiquabuchstaben: »Bamberger Eiernudeln« Ȭ vergast worden war Bamberger, der nicht mehr hatte fliehen können, und Rai lächelte, wie er vor zwanzig Jahren gelächelt hatte. Im Dunkeln sah es fast lebend aus , und sie erkannte den strengen, fast pedantischen Zug um seinen Mund, jenen Zug, der ihn hin und wieder Ȭ dreimal am Tag mindestens Ȭ »Ordnung« hatte sagen lassen, »Ordnung«, die Ordnung, die er meinte, als er sich mit ihr trauen ließ, bevor er mit ihr schlief: erpreßt die Heiratserlaubnis vom Vater und hingemurmelt die Trauungsliturgie über ihre vereinten Hände im Dämmer der mit Kitsch angefüllten Franziskanerkirche, im Hintergrund die beiden Trauzeugen, Albert und Absalom. Das Telefon klingelte und rief sie in die dritte Ebene zurück, die sie am wenigsten gern betrat: die sogenannte Wirklichkeit. Es schrillte dreimal, viermal, bis sie langsam aufstand und in Alberts Zimmer ging. Und sie hörte Gäselers Stimme, der seinen Namen nicht nannte, nur schüchtern fragte: »Wer ist am Apparat?« Sie nannte ihren Namen, und er sagte: »Ich wollte nur hören, wie es Ihnen geht, es tat mir so leid, daß Ihnen nicht wohl war.« »Besser«, sagte sie, »mir geht es besser. Und ich komme zur Tagung.«
    »Oh, fein«, sagte er, »fahren

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