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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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verschwundenes Fleisch.
    Sie war erleichtert, als ihr der Junge einfiel: Er würde einen Weg finden. Aber
    zwölfhundert Mark würden auch ihn erdrücken. Hättest deine Zähne pflegen sollen, würde Leo sagen, jeden Tag eine Zitrone trinken wie ich und ordentlich pflegen, so, er machte dann vor, wie man die Zähne bürsten muß.
    »Mein Körper, das ist alles, was ich habe Ȭ und deshalb tue ich was für meinen
    Körper.« Bambergers Nudelfabrik gab es nicht mehr: Zwölf Jahre waren vergangen; Bamberger war vergast worden, zusammengeschrumpfte, zusammengeschmorte Mumie ohne Fabrik, ohne Bankkonto Ȭ tiefblaue Kartons, gelbe, so helle Nudeln und die knallroten Bilderschecks. Wie hieß noch der würdige, so sympathische Braunbärtige mit rötlichbraunem Gesicht, Gesicht wie heller Kandiszucker? Dietrich von Bern. Um Wilma, die seit zehn Uhr bei Frau Borussiak war, brauchte sie keine Angst zu haben. An Erich dachte sie selten; es war so lange her: acht Jahre. Angstvoll verzerrtes Gesicht in der Nacht, die Hand, die sich um ihren Arm klammerte: rotunterlaufene Augen Ȭ und die SA Ȭ Uniform, die an der Garderobe hing: zaghaft ausgesprochene und empfangene Zärtlichkeiten und der Gegenwert: Kakao, Schokolade und der Schrecken, als er nachts in ihr Zimmer kam; im Nachthemd, die Hose darüber gezogen und barfuß, damit seine Mutter es nicht hörte; der halbirre Blick, und sie wußte, daß geschehen würde, was sie nicht wollte, nachdem Heinrich gerade ein Jahr tot war. Sie wollte nicht, aber sie sagte nichts, und Erich, der vielleicht gegangen wäre, wenn sie etwas gesagt hätte. Erich ging nicht: Erstaunt nahm er ihre Widerstandslosigkeit hin, und sie hatte die lähmende Gewißheit, daß es unvermeidlich war: das nahm er für das, was er Ȭ ohne Grund Ȭ erwartete Ȭ er nahm es für Liebe. Sein
    Dunkelheit, als er das Licht gelöscht hatte. Und sie sah, obwohl es dunkel
    war, gegen das hellere Blau des Nachthimmels seine unbeholfene Silhouette, als er, vor dem Bett stehend, die Hose auszog Ȭ und noch wäre es Zeit gewesen, zu sagen: Geh Ȭ und er wäre gegangen, denn Erich war nicht wie Leo. Aber sie sagte es nicht, weil sie das lähmende Gefühl hatte, es müßte sein, und warum nicht mit Erich, der so gut zu ihr war. Erich war so gut, wie der Bäcker gut war, und Erich sagte es in dieser hellen Nacht, während in seiner Brust der Atem brodelte, er sagte: »Du bist schön.«
    Niemand hatte das zu ihr gesagt, außer dem Bäcker, der noch nicht einmal dafür entlohnt worden war. Sie steckte die letzte Tomahawk an. Der Kaffee war ausgetrunken, und der Zahnarzt hatte das Fenster wieder geschlossen und schwenkte den Galgen seiner Bohrmaschine: dreihundert Mark Anzahlung, und die wunderbaren, so teuren Spritzen, nach denen sie sich so wohl, so jung gefühlt hatte. Hormone, ein Wort, das auf Leos Gesicht ein häßliches Grinsen hervorrufen würde.
    Das Cafe war noch leer: Ein Großvater fütterte sein Enkelkind mit Sahne, las
    die Zeitung dabei, hielt dem Kind, weiter in der Zeitung lesend, den Sahnelöffel hin, und das Kind schnappte mit dem Munde danach.
    Sie zahlte den Kaffee, ging hinaus und kaufte drei Orangen von ihrem
    Taschengeld, das Heinrich ihr auszahlte: die Hälfte des Geldes für das Brot, das er nicht zu kaufen brauchte, weil der Bäcker es schenkte. Aber warum kam er nicht mehr in die Bäckerei und ließ sie das schwere Brot schleppen? Sie ließ die Straßenbahn fahren und ging zu Fuß: Noch war es nicht halb eins, und Leo war noch nicht weg. Besser vielleicht, Leo zu sagen, was los war. Er würde es doch erfahren, vielleicht auch würde er einen Vorschuß nehmen Ȭ aber gab es nicht junge hübsche Frauen mit blendendweißen, gesunden Zähnen genug, mit Zähnen, die nicht ersetzt zu werden brauchten, mit billigen, gutgepflegten, von der Natur kostenlos gelieferten Zähnen? Sie kam an dem Haus vorbei, in dem Willi gewohnt hatte, ein ernster, hübscher Bursche, der erste, der sie geküßt hatte: die Bläue des Himmels und sehr, sehr weit die Musik aus dem Gartenrestaurant, Feuerwerk hinten über der Stadt, Goldregen von den Balustraden der Kirchtürme herab und der ungeschickt küs Ȭ
    sende Willi, der später sagte: »Ich weiß nicht, ob es Sünde ist Ȭ nein, nein , ich
    glaube nicht Ȭ küssen nicht, das andere ist Sünde.«
    Das andere geschah später mit Heinrich: nasses Gebüsch, dessen Zweige ihm ins Gesicht hingen: hellgrün umranktes, blasses todernstes Gesicht Ȭ und im Hintergrund die Silhouette der

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