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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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hatte etwas Beängstigendes für ihn, den großen elfjährigen Jungen in seinem Bett liegen zu sehen: blond und hübsch, Nella sehr ähnlich, lag das Kind völlig entspannt da. Durch das offene Fenster kamen schon morgendliche Geräusche: das ferne Rumpeln der Straßenbahnen, das Zwitschern der Vögel, und die blaue, tintige Nacht war schon wässerig geworden hinter der Pappelreihe, die den Garten begrenzte Ȭ und oben im Haus, in dem Zimmer, das jetzt Glum bewohnte, waren nicht mehr, längst nicht mehr, die schweren und regelmäßigen Schritte von Nellas Vater zu hören, Schritte eines Bauern, der zu lange hinter dem Pflug hergegangen war, um seinen Gang noch verändern zu können.
    Gegenwart und Vergangenheit schoben sich übereinander wie Scheiben, die den Punkt suchen, wo sie kongruent werden: Die eine rotierte sauber und hatte den Drehpunkt in der Mitte, Vergangenheit, die er genau zu überblicken glaubte, die Gegenwart aber drehte sich heftiger als die Vergangenheit, eierte über diese hin, aus einem anderen Drehpunkt gesteuert, und es nützte ihm nichts, daß es das Gesicht des Kindes gab, seinen Atem auf der Hand und Glums gutes, rundes Gesicht. Es nützte ihm nichts, auf Nellas Gesicht die Spuren der vergangenen zwanzig Jahre zu sehen, sie genau zu sehen: Fältchen um die Augen herum und Spuren weißen, ältlichen Fetts an ihrem Hals, die Lippen, die vom Rauchen unzähliger Zigaretten spröde geworden waren, und die harten gröberen
    nützte ihm nichts: Er fiel auf ihr Lächeln herein, automatisch ausgelöster
    Zauber, der die Zeit auflöste, das Kind hinten im Bett als ein Gespenst erscheinen ließ; und zwischen die eiernde Gegenwart und die scheinbar so sauber rotierende Vergangenheit schob sich eine dritte, grellgelb dahinsausende Scheibe: die Zeit, die nie gewesen, das Leben, das nie gelebt worden war: Nellas Traum. Sie zwang ihn hinein, wenn auch nur für die wenigen Minuten hier nachts in der Küche, wenn sie Kaffee kochte und Butterbrote zurechtmachte, die auf dem Teller vertrocknen würden: Kaffeekanne, Butterbrote, Lächeln Ȭ und das grau und milchig durchschossene Morgenlicht: Das waren nur Requisiten und Kulissen für Nellas quälerischen Traum, den Traum, das Leben zu leben, das nie gelebt worden war und nie würde zu leben sein: das Leben mit Rai.
    »Oh«, murmelte er, »es wird dir noch gelingen, mich verrückt zu machen.«
    Er schloß die Augen, um die verwirrende Rotation nicht mehr zu sehen: wirres Geflimmer dreier Scheiben, die nie übereinander liegen würden, tödliche Inkongruenz, in der es keinen Ruhepunkt gab. Kaffee, den niemand trinken, Butterbrote, die niemand essen sollte Ȭ Requisiten eines mörderischen Spiels, in das er hineingezogen wurde als einziger und wichtigster Statist Ȭ und doch tröstlich zu wissen, daß Bolda sich den Kaffee aufwärmen, Glum die Butterbrote einpacken und mit zur Arbeit nehmen würde. »Geh nur«, sagte Nella müde, als sie den grünen Deckel auf die Kaffeekanne legte. Er schüttelte den Kopf.
    »Warum«, sagte er, »versuchen wir es uns nicht leichter zu machen?«
    »Heiraten«, sagte sie, »wir beide? Glaubst du, daß es dann leichter sein würde?« »Warum nicht?« sagte er.
    »Geh schlafen«, sagte sie, »ich will dich nicht quälen.« Er ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus und ging leise durch die Diele ins Badezimmer. Er zündete Gas an, ließ das Wasser laufen und legte die Brause so, daß das Wasser, ohne Geräusch zu machen, in die Wanne fließen konnte.
    Er blieb lange stehen und sah blöde auf das Wasser hinunter, das bläulich Ȭ hell, in leichten Strudeln aus der Brause vom Boden der Wanne her nach oben stieg: Dabei lauschte er gespannt nach
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    draußen und hörte, daß Nella in ihr Zimmer ging: kurz danach hörte er sie
    weinen. Sie hatte die Tür zu ihrem Zimmer offengelassen, damit er das Weinen auch höre. Im Hause war es still, und es wurde kühl. Draußen dämmerte es schon, und er warf, in Gedanken versunken, seinen Zigarettenstummel in das Badewasser und beobachtete, halb blöde vor Müdigkeit, wie der Stummel sich auflöste, schwärzlicher Dreck nach unten sank: verhärtete Asche — wie die hellen, gelben Tabakflusen erst in dichter Kolonie, dann sich auflösend, auf der Oberfläche schwammen, jedes schon ein Wölkchen von gelblicher Farbe im Wasser hinterlassend. Das Zigarettenpapier wurde dunkler, und er konnte gegen diesen dunkelgrauen Hintergrund deutlich lesen Tomahawk. Der Einfachheit halber rauchte er, wenn er

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