Haus Ohne Hüter
nach Hause. Nella war noch nicht im Bett, sie hatte nicht einmal ihr Zimmer aufgeräumt: Gläser standen herum, Tassen und Teller mit Butterbrotresten, angeknabbertes Gebäck auf Glasschalen, leere Zigarettenschachteln, und nicht einmal die Aschenbecher waren geleert, Flaschen standen auf dem Tisch, und die Korken lagen herum.
Nella saß im Sessel, rauchte und stierte vor sich hin: Oft kam es ihm so vor, als säße sie schon ewig da und würde ewig dort sitzen, und er dachte das Wort »Ewig« in seiner vollen Kraft und Bedeutung: im dunstigen Zimmer, zurückgelehnt in den grünen Sessel, saß sie da, rauchte und starrte vor sich hin. Sie hatte Kaffee gekocht und die Kanne unter der verschlissenen Mütze warm gestellt, und als sie die Mütze abnahm, erschien ihm das helle und frische Grün der Kaffeekanne als das einzig Frische im Zimmer, denn auch die Blumen, die die Gäste mitgebracht hatten, standen im Zigarettendunst oder lagen noch im Papier in der Diele auf dem Tisch herum. Früher war ihm Nellas Schlampigkeit immer reizvoll erschienen, aber seitdem er mit ihr zusammen wohnte, haßte er sie. Da die Kanne auf dem Tisch stand, wußte er, daß es eine lange Nacht werden würde. Er haßte den
Kaffee, haßte Nella, die Gäste und die sinnlos verschwätzten Nächte, aber
sobald Nella lächelte, vergaß er seinen Haß: Welche Gewalt wohnte in dem einzigen Muskel, die jene unnachahmliche Verschiebung zustande brachte. Und obwohl er wußte, daß sie sich dieses Lächelns mechanisch bediente, fiel er wieder darauf herein, weil er jedesmal wieder glaubte, daß es ihm wirklich zugedacht war. Er setzte sich und redete automatisch Sätze daher, die er schon tausendmal gesagt hatte um diese Zeit, bei dieser Gelegenheit. Nella liebte es, zu dieser Stunde lange Monologe über ihr verkorkstes Leben zu halten, ihm Bekenntnisse zu machen oder ihm auszumalen, wie alles hätte kommen können, wenn Rai nicht gefallen wäre. Gewaltsam versuchte sie, die Zeit zurückzudrehen, alles, was seit zehn Jahren geschehen war, wegzuschieben und ihn in ihren Traum hineinzuziehen. Gegen halb vier stand sie dann auf, um eine zweite Kanne Kaffee zu kochen und um nicht allein zu sein in diesem Zimmer, das er schon zwanzig Jahre kannte: In diesem Zimmer voller Zigarettenrauch und Erinnerungen an Rai räumte er Gläser und schmutzige Teller zusammen, kippte die Aschenbecher aus, riß den grünen Vorhang beiseite und öffnete das Fenster. Dann floh er zu Nella in die Küche, nahm Vasen aus den Schiebeschränken, füllte sie mit Wasser und stellte die Blumen hinein, und später stand er neben Nella, die das Brodeln des Wassers abwartete, am Gasherd, aß kaltes Fleisch oder ein Butterbrot oder einen ihrer wohlschmeckenden Salate, die sie immer im Eisschrank bereithielt.
Das war die Stunde, die sie herbeisehnte, um derentwillen sie wahrscheinlich
den ganzen Rummel veranstaltet hatte, denn genauso war es schon vor zwanzig Jahren gewesen: Hier hatte er neben Nella gestanden, ihr beim Kaffeekochen zugesehen, ihre Salate gekostet, nachts um drei oder vier Uhr, und hatte den Spruch betrachtet, der aus schwarzen Platten in die weißen hineinzementiert war: Die Liebe geht durch den Magen. Rai hatte immer in Nellas Zimmer gesessen und gedöst, und auch damals waren die Gäste bis spät in die Nacht geblieben: Politisches Geschwätz hatte diese Nächte erfüllt, Streit mit Schurbigel, der sie alle aufforderte, in die SA einzutreten und die SA zu christianisieren: Worte wie »Hefe«, Worte wie »Sauerteig«, Sätze wie:
»mit christlichem Gedankengut den Nationalsozialismus durchdringen« Ȭ
mals waren hübsche Mädchen dabeigewesen Ȭ , aber die meisten waren tot oder während des Krieges in fremde Städte und Gegenden verzogen, und zwei von den hübschen Mädchen hatten Nazis geheiratet und sich unter Eichen trauen lassen. Später hatten sie Streit mit fast allen bekommen. Sie hatten die Nächte, über Landkarten gebeugt, verbracht, die sie aus dem Büro mitbrachten, aber es war immer spät geworden, und auch damals war um zwei Uhr die erste, gegen drei die zweite Kanne Kaffee fällig gewesen. Zum Glück war wenigstens die Kanne, in der Nella jetzt den Kaffee aufgoß, eine andere als damals, und es gab vieles, was unerbittlich daran erinnerte, daß die Zeit eine andere war. Sein Herz klopfte heftig, wenn er mitten in der Nacht in sein Zimmer ging, um den Jungen im Schlaf zu beobachten: Martin war groß geworden, schnell und endgültig schien ihm, und es
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