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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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gutgehen würde. Er saß dann in kleinen Kneipen herum, trank ganz schwachen Whisky und wartete auf Leen, und er hatte immer einen Stoß Zeichenpapier vor sich liegen und zeichnete, was ihm gerade einfiel. Er erfand Witze und illustrierte sie oder illustrierte Witze, die er in den Zeitungen fand. In dem großen Sunlight Ȭ Karton in seinem Zimmer häuften sich die Zeichnungen, Hunderte mußten es sein, die er nach Leens Tod einfach an Rai adressierte und nach Deutschland schickte.

    Es mußten Hunderte sein, aber er öffnete den Karton noch nicht, sondern sah den Jungen zu, die unermüdlich ihre Tore beknallten. Vielleicht waren die
    Zeichnungen gut, und er war den
    Druck los, sich jede Woche etwas aus den Fingern saugen zu müssen.
    Er kritzelte, während er den Jungen zusah, Boldas Porträt auf ein Stück Papier, warf aber den Stift wieder beiseite. Die Informationen, die er damals bekam, wurden immer spärlicher, und was er an vagem Zeug erfand, um es nach Deutschland zu berichten, immer weniger zutreffend, bis ihm die kleine Nazizeitung, für die er in London war, das magere Fixum strich, ihn dann nach einem Monat ganz rausschmiß, und er lebte von Leens Lehrerinnengehalt mit und freute sich auf die Sonntage, wo er sich draußen bei den Nonnen satt essen könnte — und wenn Leen draußen mit den Mädchen trainierte, ging er manchmal in die Kapelle der Schule und wohnte den Betstunden der Schwestern bei und bewunderte den grandiosen Kitsch: nirgendwo, schien ihm, hatte er den heiligen Antonius so vollends kitschig gesehen und nirgendwo auch die kleine Therese von Lisieux so schrecklich. Werktags ging er rund und verkaufte seine Bücher zu einem Preis von einem halben Schilling für zwei Kilo an einen Antiquar. Was er für die Bücher bekam, langte nicht einmal für die Zigaretten. Er versuchte, Stunden zu geben, aber es gab nicht viele Engländer, die Lust hatten, Deutsch zu lernen, und es gab genug Emigranten in London. Leen tröstete ihn, und er war trotz allem glücklich. Sie schrieb nach Hause, wie schlecht es ihnen ging, und ihr Vater schrieb, sie sollten doch nach Irland kommen. Er könne auf dem Hof mitarbeiten und brauche, wenn er wolle, nie zu den verdammten Nazis zurückgehen.
    Jetzt, fünfzehn Jahre später, konnte er immer noch nicht begreifen, warum er den Vorschlag von Leens Vater nicht angenommen hatte, und er verfiel in Nellas Krankheit, sich auf die dritte Ebene zu begeben und von einem Leben zu träumen, das nie gelebt worden war und nie mehr würde gelebt werden können, weil die Zeit, die dafür bestimmt gewesen, endgültig vorüber war. Aber es hatte seine Reize, sich für Minuten in einer Landschaft, unter Menschen und Lebensbedingungen zu sehen, die er nie gekannt hatte.
    Auch jetzt, fünfzehn Jahre später, konnte er immer noch nicht begreifen, daß
    Leen tot war, weil sie so plötzlich starb und zu einer Zeit, da er voller Hoffnung war. Er verdiente mehr Geld; er hatte angefangen, Packungen für eine Seifenfabrik zu zeichnen,
    auch Plakate, und es war ihm gelungen, sich auf den englischen Geschmack
    umzustellen.
    Seitdem er mehr Geld verdiente, trank er nicht mehr in Leens Abwesenheit in den Kneipen herum, sondern saß auf dem Zimmer, trank kalten Tee und arbeitete den ganzen Tag. Er stand morgens zusammen mit Leen auf, machte das Frühstück, brachte sie an den Bus.

    Die Jungens draußen waren müde und erhitzt, und Heinrich saß auf dem Rasen, mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt, und kaute an einem Grashalm. Albert beugte sich aus dem Fenster und rief ihnen zu: »Holt euch Cola aus dem Eisschrank.« Als die Jungen sich umwandten und ihn erstaunt anblickten, rief er: »Los, geht rein und holt es euch, du weißt ja Bescheid, Heinrich.« Er hörte sie schreiend um die Ecke rennen, ins Haus kommen Ȭ dann flüsterten sie und gingen auf den Zehenspitzen in die Küche. Er schloß das Fenster, stopfte sich eine Pfeife, ließ sie aber dann unangezündet liegen und nahm entschlossen den Deckel des Sunlight Ȭ Kartons auf: Es war ein ganzer Packen sehr dünnen Papiers im Karton, und er merkte, daß er den Deckel an der falschen Seite abgenommen hatte, denn alle Zeichnungen lagen verkehrt. Er nahm die erste, drehte sie um und war erstaunt, wie gut sie war. Es war ein Tierwitz, und Tierwitze waren gerade jetzt wieder modern. So gut gezeichnet hatte er nach dem Kriege nicht mehr. Mit einem weichen, sehr schwarzen Stift; und die Zeichnung war noch ganz frisch. Er war erleichtert, denn er

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