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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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Mund zuflüsterte. Ihr Gesicht war ganz gelb und fleckig, und in ihren Augen konnte er lesen, daß sie schrecklich litt, und es kam ihm irrsinnig vor, was sie flüsterte: »Geh nach Irland Ȭ geh nach Irland« Ȭ er verstand damals nicht, was sie meinte und versuchte gleichzeitig zu verstehen, was die magere, besorgt aussehende Krankenschwester ihn fragte, die neben ihm an der rötlich geka Ȭ chelten Säule stand. Stumpfsinnig sagte er immer nur das eine Wort:
    »Appendix« Ȭ und die Krankenschwester nickte, wenn er »Appendix« sagte.
    Leen würgte, konnte aber nicht mehr erbrechen, und es kam nur ein häßlich riechender, gelber Schleim aus ihrem Mund, und als er sie auf die fahrbare Bahre legte, umschlang sie noch einmal seinen Hals und küßte ihn und flüsterte, was sie die ganze Zeit über geflüstert hatte: »Geh nach Irland Ȭ mein Lieber, mein Lieber... mein Lieber« Ȭ aber der Arzt, der hinzugekommen war, schob ihn von der Bahre fort, und die Bahre wurde weggefahren, durch eine gläserne Pendeltür hindurch. Er hörte Leen noch ein letztes Mal schreien.
    zwanzig Minuten später war sie operiert und tot, und er hatte kein Wort
    mehr mit ihr sprechen können. Die ganze Bauchhöhle war voll Eiter gewesen. Das junge, graue Gesicht des Arztes hatte er nicht vergessen. Er kam zu ihm ins Wartezimmer und sagte: »Sorry«, sprach dann ganz ruhig und langsam auf ihn ein, und er verstand, daß es schon zu spät gewesen war, als er mit Leen im Taxi gesessen hatte. Der Arzt war sehr müde und fragte ihn, ob er seine Frau noch einmal sehen wolle. Er mußte warten, bis er Leen sehen durfte, und als er wartend am Fenster stand, fiel ihm der Taxichauffeur ein, und er ging hinaus und bezahlte ihn. Der Mann zeigte auf das Erbrochene in seinem Wagen, murmelte, mit der Zigarette im Mund, brummig auf ihn ein, und er gab ihm ein Pfund extra und war froh, als das brummige Gesicht sich glättete. Er ging wieder ins Wartezimmer. Die Tapete war grünlich Ȭ grau, und der Tisch war mit grünlich Ȭ grauem Tuch bespannt. Es war während der Wochen, in denen Chamberlain nach Deutschland flog, um mit Hitler zu verhandeln. Später kam eine junge, schäbig gekleidete Frau ins Wartezimmer. Sie stellte sich neben ihn ans Fenster, und die Zigarette, die sie in der Hand hielt, war ganz dunkel von den Tränen, die darauf getropft waren. Die Zigarette zog nicht mehr, und die Frau warf sie auf den Boden und stand schluchzend neben ihm am Fenster. Draußen gingen Männer über die Straße, die Schilder vor sich hertrugen: Peace for the world Ȭ und andere trugen Schilder, auf denen stand: »Zeigt Hitler, daß wir ihn nicht fürchten«, und die schäbig gekleidete junge Frau nahm ihre Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel ihres Mantels. Der Mantel roch nach Fleischbrühe und Tabak, und sie flüsterte dauernd vor sich hin: »Mein Junge, mein Junge, mein Junge« Ȭ aber dann kam der Arzt herein, und die Frau stürzte auf ihn zu, und er konnte ihren Mienen entnehmen, daß alles gutgegangen war. Die Frau ging mit dem Arzt hinaus, und er wurde von einer Krankenschwester abgeholt und ging einen langen, mit gelben Fliesen bedeckten Gang neben ihr hinunter. Es roch nach erkaltetem Hammelfett, nach erhitzter Butter, vor den Türen standen große Aluminiumkannen mit dampfendem Tee, und ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen trug auf einem Tablett Butterbrote durch den Flur, und an einem Fenster stand ein Junge mit einem Gipsverband um den Arm und schrie auf die Straße: »Verdammter Hund, ich werde dir es zeigen!« Die
    zu, zog ihn an dem gesunden Arm herum und legte den Finger auf den Mund, und der Junge schlenderte hinter dem Mädchen mit den Butterbroten her.
    Der Raum, in den die Krankenschwester ihn führte, hatte graue, schmucklose
    Wände und zwei schmale, mit bläulichen Scheiben verglaste Fenster, und auf das rechte war mit gelber Farbe ein Alpha, auf das linke ein Omega gemalt. Leen lag allein auf einer Bahre in diesem häßlichen, bläulichen Licht. Die Krankenschwester ließ ihn allein, und er trat näher und fand Leens Gesicht, wie es früher gewesen war. Nur etwas Neues entdeckte er nun darin: Ruhe, und es war erstaunlich, ihr schmales, junges Gesicht ruhig zu sehen. Vielleicht lag es am Licht, daß ihr Gesicht ohne Flecken war, von gleichmäßiger Farbe, und die Verzerrung ihres Mundes hatte sich wieder gelöst. Er zündete die beiden Kerzen an, die in Messinghaltern hinter der Bahre standen, und betete ein Vaterunser und ein Ave Maria.

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