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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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Er begriff nicht, daß er ein ganzes Jahr mit ihr zusammen gelebt hatte: Es war ihm, als hätte er sie nur sehr kurz gekannt. Daß sie tot war, begriff er, aber daß sie gelebt hatte, kam ihm wie ein Traum vor, und alle Einzelheiten, an die er sich erinnerte, nützten ihm nichts. Es schien ihm, als wäre erst ein Tag vergangen, seit er nach London gekommen war. In einen Nachmittag schien alles zusammengedrängt: die Trauung in dem frisch gebügelten Kleid, das ihr nicht stand, die Kutte des Franziskaners, Hockey und der Toast bei den Nonnen und auf einer Wiese in Surrey die Freuden der Ehe genossen... der Schrei: »Geh nach Irland.« Erbrochenes im Taxi, und er selbst stumpfsinnig wiederholend: »Appendix, Appendix«, und die bläuliche Kapelle mit dem gelben A, dem gelben O, Luftballons, die Leen an Kinder verschenkte, und Seifenblasen, die sie vom Fenster ihres Zimmers aus in den großen, grauen Hof hinaus ließ Ȭ Haß auf Schränke und zwei Kerzen, die so ruhig brannten, wie Kerzen in Totenkapellen zu brennen haben. Er war nicht traurig, nur spürte er ein dunkles, hartes Mitleid mit Leen wegen der Schmerzen, die sie hatte ertragen müssen: schreiend im Operationssaal verschwunden Ȭ und so ruhig in dieser Kapelle liegend. Er ließ die Kerzen brennen, ging zur Tür, kehrte aber wieder um und weinte. Vor seinen feuchten Augen verschwamm alles, wurde dämmrig und diffus: schwankendes O, schwankendes A, schwankende Bahre und Leens ruhiges
    pelle sah es aus, als regnete es draußen immer Ȭ aber als er herauskam, sah er, daß die Sonne schien. Die Krankenschwester war nicht mehr da, und er verirrte sich in den Gängen, lief in Krankensäle, wieder hinaus, kam bis an den Eingang zur Küche und erkannte erst später wieder den Flur mit den gelben Fliesen, und wieder ging das hübsche, dunkelhaarige Mädchen mit einem Tablett voller Butterbrote durch den Flur, und aus einer offenen Tür schrie jemand: »Senf« Ȭ und er dachte an den Löwen, der Senf auf eine Hammelkeule schmierte.
    Als er nach Hause kam, war es gerade ein Uhr. Jemand hatte das Erbrochene
    von der Treppe aufgewischt, und auch im Zimmer war es sauber. Er bekam nie heraus, wer es getan hatte, und wunderte sich, denn er hatte immer zu fühlen geglaubt, daß die Leute im Haus ihn nicht mochten, immer war er hastig, schnell grüßend an allen Leuten vorbeigegangen. Nun aber war das Er Ȭ brochene im Flur und in seinem Zimmer aufgewischt. Er nahm das Plakat mit dem Löwen vom Tisch, wollte es zerreißen, rollte es aber dann zusammen und warf es in die Ecke. Er legte sich aufs Bett und starrte auf Leens kleines Kruzifix, das über der Tür hing. Immer noch zweifelte er nicht, daß Leen tot war, aber daß er ein ganzes Jahr mit ihr gelebt hatte, konnte er nicht glauben. Es blieb nichts von ihr als ein Bett voller Krempel, der Topf mit der eingetrockneten Suppe auf dem Spirituskocher, eine angeschlagene Tasse, in der sie immer Kernseife auflöste, um Seifenblasen zu machen, und ein Packen unkorrigierter Schulhefte mit Aufsätzen über die Zinkgruben in Südengland. Später war er eingeschlafen. Er wurde wach, als Leens kleine Kollegin hereinkam, und als er wach wurde, spürte er Schmerzen in seinen Armen, mit denen er Leen so lange gehalten hatte. Mit der kleinen Kollegin und Leen war er öfters nachmittags ins Kino gegangen, sie hieß Bly Grother und war eine hübsche Blondine, die Leen immer zur Konversion hatte bewegen wollen.
    Er starrte Bly an, spürte die Schmerzen in seinen verkrampften Armmuskeln.
    Dann versuchte er Bly klarzumachen, daß Leen tot sei. Er war selbst erschreckt, wie kalt und selbstverständlich er das Wort »tot« aussprach und wie er, während er es aussprach, begriff, was es bedeutete; das Leen wirklich weg war. Bly hatte unter Schwierigkeiten Kinokarten für den Nachmittag besorgt, für einen Film, den damals jeder sehen wollte, es war ein Film
    mit Charlie Chaplin, und er selbst hatte Bly bestürmt, Karten zu besorgen, weil
    es in Deutschland diesen Film nie zu sehen geben würde. Bly hatte auch Kuchen für Leen mitgebracht, kleine Nußkuchen, die mit irgendeinem Eierzeug überbacken waren, und sie hatte die grünen Kinokarten in der Hand und lachte zuerst, als er ihr sagte, daß Leen tot sei. Sie lachte, weil sie nicht fas Ȭ sen konnte, daß er sich einen so geschmacklosen Witz erlaubte, sie lachte merkwürdig, abgehackt und halb ärgerlich. Dann begriff sie, daß es kein Witz war, und fing an, fassungslos zu weinen, und die grünen

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