Haus Ohne Hüter
Kinokarten fielen auf die Erde, und die Nußkuchen, mit Eierzeug überbacken, Kuchen, wie Leen sie liebte, lagen zwischen Leens Schirm und ihrer roten Baskenmütze auf dem Bett inmitten der vielen ramponierten Gegenstände. Er blieb auf dem Bett liegen und beobachtete Bly ganz kalt. Sie saß auf dem Hocker und weinte, und während er sie beobachtete, ihre Tränen sah und ihr Schluchzen hörte, fiel ihm erst wieder ein, was geschehen war: Leen war gestorben. Bly stand auf, ging im Zimmer umher und nahm das zusammengerollte Plakat, das in der Ecke neben dem Spirituskocher lag, und betrachtete weinend den zufrieden grinsenden Löwen, der Hitchhumers Senf auf eine Hammelkeule schmierte. Er wußte, daß er sie später bei der Schulter nehmen, sie zu trösten versuchen würde und daß er mit ihr über praktische Dinge würde sprechen müssen, über Beerdigung, Verwaltungskram, der unweigerlich zu erledigen sein würde. Aber er blieb auf dem Bett liegen und dachte an Leen, an die Flüchtigkeit und Schönheit ihrer Existenz, die auf dieser Erde kaum eine Spur hinterließ. Vielleicht würde ihr Foto im Flur der Schule hängen, und später würden bei Klassentreffen Mädchen, Frauen, immer älter werdende Frauen sagen: Das war mal unsere Sportlehrerin, und Naturkunde hatten wir bei ihr Ȭ aber das Bild würde eines Tages abgehängt und durch das Foto eines Kardinals oder eines Papstes ersetzt werden Ȭ und bleiben würden für eine bestimmte Zeit Leens krakelige Zensuren in Schulheften im Archiv, die gesetzlich vorgeschriebene Zeit lang Ȭ und ein Grab auf einem großen Friedhof. Bly beruhigte sich, noch bevor er aufgestanden war. Ihr fielen die Dinge ein, die getan werden mußten, und sie klammerte sich daran, sie zu tun, war froh, daß sie ihm »alles abnehmen« konnte; die Benachrichtigung der Schule, der Eltern Leens, ihres Bruders, der in Manchester Ingenieur war.
nasse Fleck auf der Erde, wo die unbekannte Hausbewohnerin Leens
Erbrochenes aufgewischt hatte, fing langsam an einzutrocknen, nur die Spuren der scharfen Seife blieben noch auf dem Boden, der so selten gewischt worden war, und als er nach vier Wochen auszog und auf Nellas Bitten hin nach Deutschland zurückfuhr, fand er noch die henkellose Tasse, in der Leen immer ihre Lauge für Seifenblasen hergestellt hatte, kalkig Ȭ seifig zu Ȭ sammengebackenes Sediment, und erst viel später fiel ihm auf, daß die Todesnachricht in der Zeitung, auch das kleine Kreuz draußen auf ihrem Grab ihren Mädchennamen Cunigan trug, und die Nonnen, mit denen er nach dem Begräbnis frühstückte, nannten ihn beharrlich »Miß Cunigan ȇ s husband«. Leens Bruder bot sich an, ihm Arbeit in Manchester zu besorgen, auch Leens Eltern, mit denen er sich gut verstand, luden ihn ein, zu ihnen nach Irland auf die Farm zu kommen Ȭ »was zu tun und was zu essen wird immer da sein« Ȭ , alle waren davon überzeugt, daß es Krieg geben, daß es besser sein würde, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Er erzählte niemand, daß Leen ihm zugeflüstert hatte: »Geh nach Irland.« Er zögerte lange, blieb in dem Londoner Zimmer wohnen und verkaufte später sogar den Senf schmierenden Löwen gegen ein gutes Honorar, und die Spuren von der scharfen Seife blieben an der Stelle, wo Leens Erbrochenes aufgewischt worden war. Er zögerte noch, als Nellas Briefe immer dringlicher wurden, und an einem Tage während dieser Wartezeit schickte er den großen Sunlight Ȭ Karton mit den Zeichnungen an Rais Adresse nach Deutschland. Er tat es an einem Nachmittag, nachdem er auf dem Friedhof gewesen war und dort lange überlegt hatte, ob er Leens Aufforderung nachkommen sollte.
Im Bus beschloß er, nach Deutschland zu fahren, und als er das Zimmer
leerräumen mußte, Leens Bett abgeschlagen wurde, fielen noch zwei Gegenstände aus der Matratze: eine Nagelfeile und eine kleine, rote Blechschachtel mit Hustenbonbons.
Er hörte, daß die Jungen draußen mit jemand sprachen, öffnete das Fenster. Heinrich rief zu Boldas Zimmer hinauf: »Wir nehmen uns schon in acht«, und Bolda sagte hinunter: »Ich hab ȇ gesehen, daß ihr zwei Stiefmütterchen umgeknickt habt.« Albert lehnte sich aus dem Fenster und rief zu Bolda
hinauf: »Sie werden ȇ s nicht wieder tun.« Die Jungen lachten, und auch Bolda
lachte und rief: »Ach du, wenn ȇ s nach dir ginge, könnten sie alles
zertrampeln.«
Er ließ das Fenster offen, als er die Zeichnungen ordnete, es waren sehr viele dünne Blätter, ein paar hundert. Und es
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