Haus Ohne Hüter
fiel ihm ein, daß er Leens Eltern einmal schreiben könnte, sie hatten ihm laufend Pakete geschickt mit Schinken und Tee und Tabak, und er hatte nie den Mut gefunden zu einem langen Brief, nur immer kurz gedankt und ihnen Bücher geschickt.
10
Es war schrecklich, wenn Großmutter ihn zum Essen mit in die Stadt nahm. Es geschah nur selten, daß sie überhaupt ausging, aber gerade darum hatte sie in gewissen Restaurants einen Ruf, und ihr Erscheinen rief beim Personal jenes merkwürdige Lächeln hervor, von dem er nie wußte, ob es spöttisch oder wirklich ehrfürchtig war. Sie liebte schweres und reichliches Essen, fette Suppen, bräunliches, dickflüssiges Zeug, dessen Geruch ihm schon Ekel verursachte, und die Mayonnaisen ließ sie sich auf Eis stellen, um nach dem Genuß sehr heißen Fettes in den von eiskaltem zu kommen. Große Stücke Braten wurden bestellt, die sie beroch, mit Messer und Gabel auf ihre Zartheit untersuchte und rücksichtslos zurückgehen ließ, wenn das Fleisch nicht ihrem Geschmack entsprach. Fünf verschiedene Salate, die sie durch umständliches Hantieren mit Gewürzen und Flaschen verbesserte, geheimnisvolle silberne Kannen, kupferfarbene Tropfer, Streuer und die lange Unterhaltung mit dem Kellner über Gewürze. Die Rettung war der Teller mit großen Schnitten ganz weißen Brotes, der wie ein Turm in der Mitte des Tisches stand; und ver Ȭ geblich wartete er auf das, was er außer Brot noch mochte: Kartoffeln. Gelblich Ȭ weiß, dampfend, mit Butter und Salz mochte er sie, aber die Großmutter verachtete Kartoffeln. Sie trank Wein und bestand darauf, er müsse Apfel Ȭ limonade trinken, ein Getränk, das sie als Kind so geliebt hatte. Sie war unglücklich, wenn er es nicht trank und begriff nie, daß etwas, was ihr als Kind so wunderbar erschienen war, ihm nicht wunderbar erschien. Er aß nur wenig: Salat, Suppe und Brot, und selber schlingend wie eine Wilde, nahm sie seinen geringen Appetit kopfschüttelnd hin. Vor dem Essen bekreuzigte sie
sich herausfordernd. Die Arme schlenkernd wie Mühlenflügel,
schlug sie sich mit der flachen Hand auf Stirn, Brust und Bauch. Nicht nur dadurch, auch durch ihre Kleider erregte sie Aufsehen; schwarze schwere Seide und eine leuchtend rote Bluse, die ihr gut zu dem blühenden Gesicht stand. Die Kellner, der Geschäftsführer und die Büffetmädchen hielten sie für eine russische Emigrantin, doch war sie in einem winzigen Eifeldorf geboren und hatte ihre Kindheit im tiefsten Elend verbracht. Immer wenn sie gut aß, erzählte sie davon, wie schlecht sie als Kind gegessen hatte; mit lauter Stimme, so daß die Leute an den Nachbartischen aufhorchten, beschrieb sie die fade Süße zerkochter Steckrüben und die Bitternis angebrannter Magermilchsuppen; genau beschrieb sie den Brennesselsalat und das saure dunkle Brot ihrer Kindheit, während sie triumphierend eine Scheibe weißesten Weißbrotes auseinanderbröckelte. Eine ganze Litanei von Flüchen hatte sie für die Kartoffel bereit: mehliges Erstickungsmittel, preußisches Brot Ȭ und eine wild hingemurmelte Folge von Dialektausdrücken, die er nicht verstand. Sie nahm eine neue Scheibe Weißbrot, mit der sie die Soße auftupfte, und ihre leuchtend blauen Augen zeigten dann den Ausdruck einer Wildheit, die ihn erschreckte. Und er begriff, warum er Angst vor ihr hatte, wenn sie zu beschreiben anfing, wie zu Haase Kaninchen geschlachtet worden waren. Er hörte die Knochen der zarten Tiere knacken, sah ihre Augen brechen, Blut fließen, und es wurde ihm genau beschrieben, wie man sich um die Eingeweide gebalgt hatte: dunkelrotes Gemengsel, Lunge, Leber und Herz, um die sie, als die Jüngste, meistens von ihren hungrigen älteren Geschwistern betrogen worden war; jetzt noch, nach mehr als fünfzig Jahren, heulte sie vor Wut über ihren Bruder Matthias, der es immer verstanden hatte, das Herz der Kaninchen an sich zu reißen; »Lump, Schurke« nannte sie ihn, der schon zwanzig Jahre auf dem Friedhof ihres Heimatdorfes ruhte. Er hörte das dumme und irre Gegacker von Hühnern, die im ärmlichen Hof herumrannten, wenn ihr Vater mit dem Beil in der Hand in den Hof trat: mageres Federvieh, das, wie sie sagte, »reif für die Suppe war«. Jammernd erzählte sie, wie sie bei den großen Bauern, wenn sie schlachteten, um eine Schüssel Blut betteln ging und fettige, klumpige Wurstbrühe in der Wasch Ȭ schüssel nach Hause trug. Wenn sie so weit erzählt hatte, war der Nachtisch nicht mehr weit, außerdem der
Weitere Kostenlose Bücher