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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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Zeitpunkt, wo er unweigerlich sich würde
    Fleischgang verzehrte sie Lammsteak, blutig und weich, und sie zerschnitt es,
    verschlang es, die Zartheit des Fleisches preisend; ihm aber kam der Gedanke an zerschnittene, geschlachtete Kinder, und während er sich auf Eis, Kaffee und Kuchen zu freuen versuchte, wußte er doch, daß er erbrechen und nichts mehr würde essen können. Alle Speisen, die auf dem Tisch gestanden hatten, fielen ihm wieder ein: die fette, glühend heiße Gulaschsuppe, Salate, Braten und die verdächtig rötlichen Soßen, und er betrachtete entsetzt den Teller der Großmutter, auf dem sich mit Fett gemischtes Blut sammelte, Blut mit Fettaugen. Während des ganzen Essens lag eine brennende Zigarette neben ihr im Aschenbecher, und zwischen den einzelnen Bissen nahm sie ei Ȭ nen Zug und blickte triumphierend rund. Er dachte daran, daß Brielach und Behrend jetzt im Garten Fußball spielten, eiskalte Limonade und Marmeladenbrote bekamen und daß Albert später mit ihnen wegfahren und irgendwo Eis essen würde; vielleicht an der Brücke oder unten am Rhein, wo man von den Tischen aus Steine ins Wasser werfen und den Männern zusehen konnte, die Teile verrosteter Schiffswracks aus dem Wasser holten. Verdammt war er, hier, zwischen Fressern zu sitzen, und die Großmutter tupfte befriedigt blutiges Fett mit Brot auf.
    Jedesmal überlegte er zu lange, ob es Zeit sei, zum Klo zu gehen und dort zu
    erbrechen, aber die Großmutter saß immer in der äußersten Ecke des Lokals, und der Weg zum Klo führte an fünf, sechs, sieben großen Tischen vorbei. Er zählte sie ängstlich, und der rostbraune Läufer schien in eine Unendlichkeit fressender Menschen zu führen; er haßte sie, wie er die Großmutter haßte, heiße Gesichter, deren Röte durch das Weiß der Servietten noch röter erschien. Dampfende Schüsseln und das Knacken von Knochen, Kinderknochen, Blut mit Fettaugen, die gierig kalten Augen der mageren Fresser und die heißen, geröteten, entsetzlich gutmütigen Augen der dicken Fresser, und die Kellner schleppten, schleppten geschlachtete Kinder, gebrochene, vom Büffet her, und die Augen derjenigen, die noch keine Schüssel vor dem Bauch stehen hatten, beobachteten gierig den Weg der Kellner.
    Der Weg zum Klo war weit. Einmal war es ihm gelungen, dorthin zu
    kommen. Taumelnd war er durchs Spalier der Fresser gegangen, immer
    gelungen, das Klo zu erreichen: weiße Kacheln und der Geruch von heißem
    Urin, künstlichen Zitronenaromas und von Seife. Der Tisch des Wärters mit bunten Packungen, Kämmen, Handtüchern und grunzende Fresser, deren gerötete Gesichter er doppelt sah in den Spiegeln, im Original. Doppelreihe von Mördern, die in ihren Zähnen herumstocherten, feiste Backen abtasteten, um die Rasur zu überprüfen und ihre Zungen im Munde herumwälzten. Weiße Hemdenstücke in geöffneten Hosenlätzen und endlich ein freier Platz. Er beugte sich über das Becken, und der heftig auf ihn eindringende Geruch des Fleischfresserurins erhöhte seinen Ekel, erhöhte auch den Brechreiz, und er sehnte sich nach der Befreiung, die das Erbrechen bringen würde. Genau neben ihm die runde rote, ganz junge Fratze eines Knochenknackers, der zu ihm sagte: »Steck den Finger in den Mund, los, steck den Finger in den Mund.« Er haßte die gutmütige Zudringlichkeit dieses Mörders, dieses roten Gesichts, und er sehnte sich nach Onkel Albert, nach seiner Mutter, nach Glums einfachem, eckigem Gesicht und nach Boldas pechschwarzem glattem Haar um ihr weißes Gesicht herum, er sehnte sich danach, mit Brielach und Behrend Fußball zu spielen. Aber er war gefangen, war verloren zwischen rülpsenden, pinkelnden Knochenknackern, eingesperrt in dieses so tödlich saubere weiße Gefängnis, verdammt, ewig nur den Geruch heißen Urins und künstlichen Zitronenaromas zu riechen. Die weiche, warme Tatze des Wärters legte sich von hinten auf seinen Nacken, und das breiig Ȭ gutmütige Gesicht lag auf seiner Schulter: »Was hat denn mein Junge?« In diesem Augenblick drang die Großmutter ins Männerklo ein, entsetzt weiteten sich die Augen des weichen, warmen Wärters, und die Pinkler fummelten schamhaft an ihren Hosen herum. »Was ist denn los, mein Kleiner, was hast du denn?« Ihre Hände waren leicht und doch fest, sie beugte seinen Nacken, zwang ihn, obwohl er vor Entsetzen schrie, ihren langen, gelblich getönten Zeigefinger in den Mund, und trotzdem erbrach er nicht, hart lag der Ekel im Magen, ein Eisenklumpen,

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