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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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Tasche, Brot dazu, ein Stück Wurst und ein Buch. Merkwürdige Bücher las Glum, Dogmatik stand auf einem dicken Buch, auf einem anderen Moraltheologie, Ȭ Bücher, in denen er mit Bleistift herumkritzelte und deren Titel sich nur schwer entziffern ließen. Moraltheologie hatte etwas mit unmoralisch zu tun. Glum wußte genau, was unmoralisch war, und Glums Auskünften nach aßen die Mörder in Vohwin Ȭ kels Weinstube weder Kinder noch war überhaupt unmoralisch, was sie taten Ȭ aber vielleicht war Glums Buch zu alt, denn alt war es, und es stand vielleicht noch nichts von diesen Mördern drin.
    Glum rauchte fast ununterbrochen Pfeife, nahm sie manchmal sogar mit ins Bett, er kochte Suppe, las in dicken Büchern, und frühmorgens ging er auf Schicht, er arbeitete in Großmutters Fabrik.
    Glum war merkwürdig, aber gut. Er mochte Glum, obwohl ihn dessen
    Zahnlosigkeit, dessen Haarlosigkeit manchmal erschreckten, aber Glums Haarlosigkeit, Glums Zahnlosigkeit hatten ihre Ursache. KZ. Glum war im KZ gewesen. Er selbst erzählte nie davon, aber Onkel Albert deutete an, was es war: Tod und Mord und Gewalt und Schrecken, Millionen Menschen Ȭ und weil Glum das alles gesehen hatte, sah er älter aus, als er war. Ihm schien immer, Glum müßte älter sein als die Großmutter, aber Glum war fünfzehn Jahre jünger als die Großmutter. Glum sprach seltsam, so als wälzte er jedes Wort wie einen Klumpen aus dem Mund, er riß den Mund weit auf Ȭ nackte rosige Höhle Ȭ , vollführte mit der Zunge merkwürdige Turnübungen vor dem dunkler geröteten Hintergrund, und es schien, als müßte etwas Rundes, Dickes aus seinem Mund gerollt kommen, aber es kam nur ein Wort: »Die.« Das nächste Wort wurde größer, dicker, runder, kleiner Kürbis fast, langsam geformt, mit großer Geduld hinausgewälzt, aber wieder nur ein Wort, ein großes Wort: »Muttergottes« Ȭ das Wort »Muttergottes« war ungeheuerlich groß in Glums Mund, eher schon ein Luftballon als ein kleiner Kürbis. Glums Augen leuchteten, seine schmale Nase bebte, und es kam kein Luftballon, kein Kürbis, sondern etwas in der Größe eines ziemlich dicken Apfels:
    »gewaltig«. »Gewaltig« war Glums Lieblingswort, und besonders rund, be Ȭ
    sonders zärtlich sprach er die mittlere Silbe Ȭ das wal von gewaltig Ȭ aus. Glum war fromm und freundlich, aber wenn er erzählte, war es schwer, ihm zu folgen, weil die Abstände zwischen den einzelnen Worten so groß waren, daß man fast das erste vergessen hatte, wenn das nächste kam, und so war es schwer, den Zusammenhang zu wahren. Langsam, mit einer ungeheuren Feierlichkeit und Geduld Ȭ auch »Geduld« gehörte zu Glums Lieblingsworten Ȭ konnte Glum erzählen. Wenn man genau achtgab, konnte man großartige Sachen hören.
    Eine Wand in Glums Zimmer war ganz von einer Weltkarte bedeckt, die Glum
    selbst bemalte und beschriftete. Er hatte sehr festes Papier bogenweise aneinander geklebt, monatelang die
    Maßstäbe zurechtgerechnet, sie auf die Größe seiner Wand abgestimmt und mit Fleiß, Pedanterie und Geduld Grenzen und Gebirge, Flüsse und Seen, Meere abgesteckt; er hatte viel radiert, vorsichtig schraffiert, und nach monatelangen Vorbereitungen begonnen, ganz vorsichtig mit Farbe die Bodenbeschaffenheit einzutragen, großer Verbrauch von Grün für riesige Ebenen, von Braun für Gebirge und von Blau für große Meere. Glum hatte schon vieles gesehen, als er ins Haus zog, zu einer Zeit, die lange zurückliegen mußte, denn solange Martin denken konnte, war Glum da. Vieles hatte Glum schon gesehen auf seinem Weg von seiner Heimat bis über den Rhein hinweg, aber eins noch nicht, noch nie einen Malkasten, und der Malkasten, den Albert ihm damals vorführte, entzückte ihn mehr als die Dome, mehr als die Flugzeuge, er hatte Onkel Alberts Handbewegungen genau nachgemacht, den Pinsel ins Wasser geschwenkt, ihn über die Farbtube gestrichen, mit dem Pinsel dann übers Papier Ȭ und als das Papier dann rot wurde, hellrot, da hatte er vor Freude gelacht, und von diesem Tage an besaß er immer selbst einen Malkasten.
    Sehr langsam, sehr genau, mit sehr viel Geduld malte Glum sich die Welt zurecht, weit hinten irgendwo, wo alles so grün war, hatte er begonnen, in Sibirien, dort hatte er auch den allerersten schwarzen Tupfer auf die Karte gesetzt. »Dort hinten«, sagte er, »fünfzehntausend Kilometer von hier weg, dort bin ich geboren.« Um »fünfzehntausend Kilometer« zu sagen, gebrauchte er fast eine Minute: Apfel, Kürbis,

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