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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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Zeit Ȭ lang hatte sie Stolz empfunden, wenn sie Rais Namen in den Registern von Anthologien fand, seine Gedichte im Funk gesprochen und Honorare an sie überwiesen wurden. Männer, die sie nie gekannt hatte und niemals hätte kennenlernen wollen, suchten sie auf: mit ausgesuchter Lässigkeit angezogene Jünglinge, die ihre eigene Lässigkeit genossen wie Kognak; deren Ergriffenheit nie über ein gewisses wohltemperiertes Maß hinausging. Und wenn solche Leute bei ihr gewesen waren, wußte sie, daß wieder irgendwo ein Aufsatz über Lyrik fällig war. Zeitweise hatte es Pilgerbewegungen in ihr Haus gegeben, Aufsätze wuchsen in Zeitschriften wie Pilze nach einem Sommerregen; Honorare flossen; Rais Gedichte wurden zweimal neu aufgelegt. Aber dann hatten die gewählt angezogenen, lässigen Jünglinge andere Opfer entdeckt, und sie hatte eine Weile Ruhe, und Rai würde erst wieder auftauchen, wenn eine Flaute eintrat, denn dieses Thema eignete sich jederzeit: ein Dichter, gefallen in Rußland, Gegner des Systems Ȭ war er nicht das Symbol einer sinnlos geopferten Jugend Ȭ und war er nicht Ȭ ein wenig herumgeschwenkt die Optik Ȭ das Symbol einer sinnvoll geopferten Jugend? Tauchten nicht in Pater Willibrord, in Schurbigels Reden seltsame Anklänge auf? Unerbittlich jedenfalls war Rai zum beliebten Gegenstand von Essays geworden, und es schien ganze Kompanien gewählt angezogener, lässiger Jünglinge zu geben, die Essays schreiben, unermüdlich beschäftigt waren, Symbole zu schaffen. Fleißig, sauber, emsig, mit nicht zu viel, nicht zu
    wenig Leidenschaft webten sie am Gobelin der Kultur: flinkhändige Schwindler, die, wenn sie sich trafen, einander zulächelten wie Haruspices. Preisgegeben waren ihnen die Eingeweide, und aus ärmlichem Gekröse verstanden sie eine Prophetie zurechtzudeuteln: Laue Hymnen sangen sie auf ein frisch freigelegtes Herz, und in verborgenen Laboratorien befreiten sie die versengten Därme des Opfertieres von Kot und verschacherten heimlich die Leber: verkappte Schinder, die nicht Seife, sondern Kultur aus Kadavern herstellten oder herstellen ließen. Abdecker und Propheten, die in Abfalleimern herumstöberten und hymnisch ihre Ergebnisse besangen Ȭ jedenfalls lächelten sie, wenn sie einander trafen, lächelten wie Haruspices, und Schurbigel war ihr Pontifex: Schlammschwimmer mit humanem Ho Ȭ rizont und überdimensionaler Frisur.
    Haß erfüllte Nella, und sie spürte voll Angst, wie sie in Alberts Gedanken fiel:
    Windungen, die bereitstanden, sie einzufangen.
    Solange Rai noch lebte, hatte sie mit einer gierigen Beständigkeit auf die Post gewartet, wie ein Raubtier im Käfig auf sein Fressen wartet: die rechte Hand in der Schlaufe aus Goldbrokat, lauerte sie hinter dem grünen Vorhang, behielt den Briefträger im Auge; wenn er um die Ecke des Pfarrhauses bog, entschied sein nächster Schritt über ihren Tag: Kam er geradenwegs über die Straße auf ihr Haus zu Ȭ genau auszumachender sichtbarer Schenkel des Winkels Ȭ , dann wußte sie, daß er ihr etwas bringen würde, schwenkte er aber gleich und betrat die unsichtbare Diagonale, die ins Nachbarhaus führte, dann war wieder für einen Tag die Hoffnung dahin. Sie grub dann die Fingernägel in den schweren, grünen Stoff, zerfaserte die Gewebe, blieb noch stehen in der wahnwitzigen Hoffnung, der Briefträger könne sich geirrt haben, noch einmal umkehren. Aber der Briefträger irrte sich nie, und niemals kehrte er um, wenn er einmal diagonal an ihrem Hause vorbeigegangen war. Törichte Gedanken überkamen sie oft, wenn sie ihn endgültig weiter in die Straße hineingehen sah: Unterschlug er Briefe, war er Teilnehmer an einer Verschwörung gegen sie, gegen Rai? Sadist in der blauen Uniform, mit dem gelben Posthorn bestickt, Heimtücker in der Maske des Biedermanns? Aber der Briefträger war weder Sadist noch Heimtücker; er war wirklich bieder und ihr aufrichtig ergeben. Sie spürte es, wenn er ihr Post brachte.
    Nun wußte sie schon seit Jahren nicht mehr, wie der Briefträger aussah, wie
    er hieß, wann er kam. Irgendwann wurden von irgendwem Drucksachen in den Briefkasten geworfen, auch Briefe, und irgendwann wurden von irgendwem diese Drucksachen und Briefe aus dem Kasten genommen: Büstenhalter, Rieslinge, Kakao wurde angeboten. Es interessierte sie nicht. Sie las seit zehn Jahren keine Briefe mehr, auch wenn sie an sie gerichtet waren. Mancher lässige Jüngling hatte sich schon beklagt Ȭ Trichinenbeschauer der Kultur, die Symbole

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