Haus Ohne Hüter
gereizt, aber die Gereiztheit kam daher, daß sie ihre Zigarette nicht mitgenommen hatte; es war blöde, ohne Zigarette telefonieren zu müssen. Gäseler schwieg, und es blieb eine halbe Sekunde still, dann sagte er schüchtern: »Also schön, ich erwarte Sie, wie wir besprochen haben, vor der Vertrauensbank.« Und er fügte noch schüchterner hinzu:
»Ich freue mich, Nella. Auf Wiedersehen, bis bald.«
»Auf Wiedersehen«, sagte sie kurz und legte den Hörer auf. Sie starrte auf den schwarzen Telefonapparat, und während sie darauf starrte, fiel ihr ein, daß Frauen in Filmen nach entscheidenden Telefongesprächen nachdenklich auf den Apparat starrten, so wie sie es jetzt tat. In den Filmen taten es Frauen, die sich in Gegenwart ihres Mannes mit Liebhabern verabredeten, Frauen, die schwermutsvoll dann ihren Mann, ihre Kinder, ihre Wohnung betrachteten, wissend, »was sie verließen«, wissend aber auch, daß sie »dem Ruf der Liebe folgen mußten«. Sie löste gewaltsam ihren Blick von dem schwarzen Apparat, seufzte und wandte sich Albert zu: »Ich möchte mit dir sprechen, wenn Martin weg ist. Mußt du nicht gehen?« Oh, Sanftmut in der Stimme der Mutter, mütterliche Stimme! Martin blickte auf den Wecker, der auf Alberts Nachttisch stand, und schrie: »Es ist höchste Zeit, um Gottes willen.«
»Komm«, sagte sie, »mach schnell!«
So war es immer: bis zum letzten Augenblick vergaßen sie die Zeit, dann wurde hastig der Ranzen gepackt, ein Brot fertiggemacht.
Sie halfen Martin, die Bücher in den Ranzen zu stopfen. Albert war aufgesprungen und schmierte ein Brot, sie küßte den Jungen auf die Stirn und sagte: »Soll ich dir eine Entschuldigung mitgeben, es ist schon bald neun, du kommst nicht mehr zurecht.« »Nein«, sagte Martin resigniert. »Es hat gar keinen Zweck. Der Lehrer liest die Entschuldigungen schon gar nicht mehr. Wenn ich pünktlich komme, lacht die ganze Klasse.« »Wir fahren doch heute abend weg, nun geh. Morgen ist schulfrei.«
Albert stand, Schuldbewußtsein auf dem Gesicht, neben seinem Bett. »Es tut mir leid, Martin«, sagte er, »ja, heute abend fahren wir weg.«
Nella rief den Jungen zurück, als er zur Tür gegangen war, sie
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küßte ihn noch einmal und sagte: »Ich muß verreisen, aber Albert wird sich
um dich kümmern.« »Wann kommst du zurück?«
»Laß doch den Jungen jetzt gehen«, sagte Albert. »Es ist scheußlich für ihn, immer zu spät zu kommen.« »Es macht jetzt nichts mehr«, sagte Martin, »ich komme ja sowieso zu spät.«
»Ich weiß nicht«, sagte Nella, »vielleicht dauert es ein paar Tage, aber wahrscheinlich komme ich morgen schon zurück, am Abend.«
»Ja, ist gut«, sagte das Kind, und sie wartete vergebens auf ein Zeichen des Bedauerns. Sie steckte ihm eine Apfelsine in die Tasche, und er ging langsam hinaus.
Die Tür zu Alberts Zimmer war offen geblieben. Sie zögerte, schloß dann die
Tür und ging in ihr Zimmer zurück. Die Zigarette auf der Marmorfensterbank war fast ganz verqualmt, und heftige, hellblaue Schwaden stiegen auf. Sie drückte die Zigarette aus, warf sie in den Aschenbecher und sah, daß die gelblichen Spuren auf der Fensterbank sich vermehrt hatten. Der Junge überquerte langsam, sehr langsam die Straße und verschwand um die Ecke des Pfarrhauses. Jetzt war etwas Leben auf der Straße, der Milchmann verhandelte mit Dienstboten, und ein magerer Mann zog mühsam seinen Karren vorbei und bot mit melancholisch singender Stimme Kopfsalat an, wildes, heftiges Grün wie das der Limonadenflaschen auf dem Tennisplatz. Der Milchmann und der Mann, der seinen Salat durch die Straße zog, gingen vorüber. Frauen mit Einkaufstaschen tauchten auf, und ein Hausierer betrat die unsichtbare Linie, die der Briefträger vor Jahren betreten hatte, wenn er ihr Post brachte: ein mit Bindfaden umwickelter, aufgeplatzter Koffer und die Hoffnungslosigkeit in der Kopfhaltung des Mannes, der das Gartentor öffnete. Sie sah ihn, wie sie einen Film gesehen hätte, und daß er wirklich klingelte, erschreckte sie. War er nicht bloß der dunkle Schatten gewesen, der, in diesen sonnigen Film hineinkomponiert werden mußte, verführerisch unwahrer Traum von Redaktionszimmer, Druckfahnen und kalten Getränken? Es klingelte leise und schüchtern, und sie wartete, ob Albert öffnen würde, aber Albert rührte sich nicht, und sie ging in die Diele und zog die Tür auf. Der Koffer war schon geöffnet, ordentlich gestapelte Kärtchen mit Gummiband, Knöpfe auf Kartons
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