Hausers Zimmer - Roman
e … Deine Phantasie reicht nicht aus, um dir vorzustellen, was man mit mir gemacht ha t … Sie haben mit Steinen auf meinen Körper geschlagen, bis meine Knochen brachen, sie haben mit Heftzwecken Schach auf meinem Rücken gespielt, einmal haben sie mich an einem heißen Tag, an dem alle Gefangenen und Wärter nur herumdösten, aus lauter Langeweile auf die Eisenpfähle eines Zauns gedrückt, ich wäre fast verblutet. Aber weil sie entdeckten, dass ich am gleichen Tag wie der Herr und Meister Geburtstag habe, bin ich amnestiert worden. Man hat mich dann besser behandelt und zu einem Arzt gebracht, nur deshalb habe ich überlebt. Seitdem interessiere ich mich übrigens für Medizin.«
Ich starrte Herrn Adán an. Er trat noch näher an mich heran. Sein Hemd hatte er lässig über die Schulter gelegt. Er war ganz ruhig. Auch auf seiner Brust waren Narben.
»Bitte«, flüsterte er.
Er sah mich wieder so lange an. Langsam konnte ich in der Dunkelheit besser sehen. Als könnte er meine Gedanken erraten, sagte er: »Ja, die Augen müssen sich erst einmal auf die veränderten Lichtverhältnisse einstellen.«
Dann legte Herr Adán meine Hand auf seine Brust und begann, mit ihr langsam über seine Haut zu fahren. Dabei achtete er darauf, dass sie jede Narbe wirklich berührte. Ich stellte fest, dass es ganz unterschiedliche Narben gab. Manche mussten auf tiefe Verletzungen zurückzuführen sein, meine Finger glitten dann über harte Knote n – sie fühlten sich an wie das Rückgrat meines Bruders, wenn er sich bückte. Andere Narben waren eigentümlich weich, die Haut war an ihrer Stelle dünn wie Pergamentpapier. Und es gab Narben, die taten mir unter den Fingerkuppen we h – lang und dünn wie Nägel waren sie. Manche waren schnurgerade wie Pfeile, andere gewunden wie die Spur des Sanddornsafts, wenn meine Mutter ihn in einer Quarkschale verrührte. Braunrote, krustige Narben waren das.
Herr Adán ließ meine Hand los, und ich hörte ein Geräusch von raschelndem Stoff, etwas fiel auf den Boden. Dann ergriff er meine Hand wieder und führte sie über eine tiefe Narbe, die bis zum Rand seiner Unterhose reichte. Er ließ eine lange, sichelförmig geschwungene Narbe in seinen Leisten nicht aus, machte aber keinerlei Anstalten, meine Hand in seine Unterhose zu führen.
Meine Zahnärztin, Frau Dr. Minkeritz, hatte einmal gesagt, die Zungenspitze und die Fingerkuppen würden von ihrer Wahrnehmungsweise her genau wie Lupen funktioniere n – sie gäben einem immer das Gefühl, dass alles viel größer sei als in Wirklichkeit. Deshalb habe man bei einem Loch im Zahn immer gleich das Gefühl, der halbe Kiefer würde einem fehlen.
Während meine Hand über eine scheinbar endlos lange Narbe an Herrn Adáns Oberschenkel strich, fiel helles Licht von den Scheinwerfern eines vorbeifahrenden Autos in den Raum. Das fahle Licht erhellte die Apotheke immer wieder für Momente. Jedes Mal erschrak ich, wenn in der Dunkelheit eine breite rote Narbe vor mir aufleuchtet e – oder eine dieser weißen Hautstellen irgendwo, deren Farbe nicht zu der von Herrn Adán zu passen schien.
Manchmal wurden die Tiegel und Bottiche auf den hohen Regalen sichtbar. Bei drei dicht hintereinander folgenden Autos las ich »Si « – »li « – »cea«. Einmal leuchtete ein Feuerlöschgerät hellrot auf, danach, flammenfarben, eine Narbe unterhalb von Herrn Adáns Nacken. Dann fiel das Licht auf den Gummischlauch eines Blutdruckmessgeräts, der wie eine tote Schlange auf der Anrichte lag, und auf einen lilaroten Narbenwurm auf Herrn Adáns Unterarm. Alles, was einen Moment lang im Licht stand, wurde im nächsten in eine Dunkelheit getaucht, die tiefer zu sein schien, als die, die ihr vorausging. In diesem unablässigen Flackern wirkten Herrn Adáns Körperteile wie voneinander losgelöst; es war, als wäre der Hinterraum der Apotheke von unendlich vielen verstümmelten Körpern angefüllt. Für Sekunden wurden sie auf einem leuchtenden Thron emporgehoben, der Dunkelheit und dem Vergessen entrissen, um dem nächtlichen Berlin gezeigt zu werden. Herrn Adáns geschundener Körper war einem Blitzlichtgewitter ausgesetzt. Eine stumme Parade von Wunde n …
Es dauerte lange, bis Herr Adán mich über all seine Narben geführt hatte. Schließlich ließ Herr Adán meine schweißnasse Hand los. Dann streichelte er mir flüchtig über die Wange.
Hastig zog er sich an und geleitete mich hinaus. Auf dem Weg zur Tür riss er noch zwei Packungen Hustenbonbons und
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