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Hausers Zimmer - Roman

Hausers Zimmer - Roman

Titel: Hausers Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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schliefen?
    Eine Frau schlurfte in meine Richtung. Ich sah, dass sie barfuß war. Im Februar. Sie hatte unglaublich lange, dünne Storchenbeine, ihre Haare waren verfilzt. Jetzt setzte auch sie sich auf das Mäuerchen, allerdings mit dem Rücken zur Straße. Dann sah ich, wie sie Vorbereitungen traf, um sich einen Schuss zu setzen. Ich hatte schon viele Spritzen im Rattenloch, auf der Hundewiese und auch in der Nähe des Theaters gefunden, aber ich hatte noch nie direkt gesehen, wie sich jemand Heroin verabreichte.
    Erst blieb ich sitzen, dann bekam ich doch Angst und stand so leise es ging auf. Die Frau nahm keine Notiz von mir. Ich schob mich hinter die nächste Laterne, die genau in diesem Moment ausging, als wäre ich ein Bote der Finsternis. Im Dunkeln beobachtete ich die Frau, wie sie da saß, ihren Arm mit einem Tuch abband und eine Vene suchte. Sie tat mir unendlich leid, doch ich wusste nicht, was ich für sie tun sollte. Mit Erwin und Karl war doch alles viel einfacher. Wiebke glaubte nicht einmal, dass die beiden Alkoholiker waren. »Die leben eben einfach gern anders«, hatte sie kürzlich gesagt, als sie mir zwei Einkaufsnetze mit Lebensmitteln für die beiden in die Hand drückte. Für eine Sekunde ging mir durch den Kopf, ob ich der Frau anbieten sollte, Herrn Kanz für seine vierzehnte und fünfzehnte Brust Modell zu sitzen und sich damit ein paar Mark zu verdienen. Aber ich wusste nicht, wie ich sie ansprechen sollte. Gern hätte ich Wiebke von dieser Frau erzähl t – mit meiner Mutter konnte man sehr gut über problematische Menschen und schlimme Schicksale spreche n –, aber das ging leider nicht, weil ich dann ja zugeben müsste, dass ich um ein Uhr nachts unterwegs gewesen war.
    Später grübelte ich wieder, anstatt zu schlafen. Mir ging die Frau durch den Kopf. Kaputte Type n – das war so ein Ausdruck von Falk. Der Ausdruck war nicht eindeutig negativ belegt. Es schwang auch etwas von Hochachtung dabei mit. Wer kaputt war, hatte viel erlebt. Nicht nur beim Anblick der Einschusslöcher an unserer Hausfassade oder im Rattenloch spürte ich die Kaputtheit dieser Stadt. Diese mal sichtbare, mal nur spürbare Kaputtheit war immer d a … ein gedanklicher Virus, eine chronische Sepsi s … Mal fühlte der Patient sich schwach, mal war es gerade diese Schwäche, die ganz eigene Kräfte freisetzte. Die sich selbst verzehrende, schlaflose Stad t … Ich kann nicht schlafen! I’m so tired. Toda la noche sin dormir .
    Am nächsten Morgen war ich sehr müde. Beim Milcherwärmen passte ich nicht auf, alles kochte über. Zum Glück waren Wiebke und Klaus vollständig von den Nachrichten absorbiert. Es hieß, dass Schmidt die Vertrauensfrage gestellt habe. Kurz danach wurde berichtet, dass wieder jemand dem Zoo-Liebling Knautschke ein Messer ins Gehege geworfen habe. Knautschke war das einzige Nilpferd, das in Westdeutschland den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte. Nach dem Krieg war es gelungen, Knautschke mit Grete, dem einzigen Nilpferd, das in Ostdeutschland überlebt hatte, zusammenzubringen, was Tochter Bulette »zur Folge« hatte, wie der Nachrichtensprecher mit unverhohlener Freude an dieser Nilpferdromanze erzählte. Der Mann, der das Messer in Knautschkes Becken geworfen hatte, wurde schnell gefasst. Zum Glück hatte Knautschke das Messer nicht verschluckt. Trotzdem hatten sich vor dem Gehege Unmengen von besorgten Bürgern eingefunden; die Telefonleitung vom Zoo war kurzzeitig wegen Überlastung zusammengebrochen. Der Zoodirektor wurde lange interviewt, ausführlich sprach er über Knautschkes Einfallsreichtum, Sensibilität und Intelligenz. Man hätte glauben können, er spräche über einen grandiosen Künstler.
    Unser anschließendes Gespräch am Küchentisch war eine krude Mischung aus Schmidt und Knautschke. Einmal sagte ich aus Versehen »Herr Knautschke«, und alle lachten. Doch das Lachen blieb uns im Halse stecken, denn Klaus hatte den Kanal gewechselt und eine Sondersendung über das Waldsterben erwischt. Von flächendeckender »Kronenverlichtung« und von »Lamettasyndrom« war die Rede. Bilder von skelettierten Waldbeständen sah man zurzeit auch oft im Fernsehen. Die Stimme des Sprechers klang, als würde uns das Licht für immer ausgeknipst werden.
    Es war minus dreizehn Grad, und ich hatte vergessen, meine lange Unterhose anzuziehen. Falk hatte mich, als er die Kohleeimer nach oben holte, noch gewarnt, aber ich hatte mich nicht darum gekümmert. Daher legte ich heute zum

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